Evangelische
Kirchengemeinde
Langenargen -
Eriskirch


 

 

Betrachtungen (in) einer Krisenzeit (Von Pfr. Matthias Eidt)

Notizen aus dem Kellerloch.


Das Tagebuch wurde in der Corona-Zeit begonnen: Als sich die Menschheit aus Angst vor der Epidemie in ihre Wohnungen wie in Kellerlöcher verkroch. Als "die Jünger versammelt und die Türen verschlossen waren aus Furcht..." (Joh 20,19)

Sich dessen entsinnend, dass einstmals Dostojewski 'Aufzeichnungen aus dem Kellerloch' verfasst hat.

Vor allem aber - wann säßen wir je nicht in Kellerlöchern? - dem Psalmwort gemäß: "Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir..." (Ps 130)

Und immer schon - welch schöne Paradoxie - war ja die Tiefe auch der Ort höherer Erkenntnis. Erneut Dostojewski, ebenso Botho Strauß wissen davon:

"Im Unglück sieht man die Wahrheit klarer."  (F. M. Dostojewski)

"Sobald Chaos und Unheil heraufziehen, fahren die ersten Wirbel unter die Vernunft und lösen sie aus ihren geschickten Verhaftungen."  (Botho Strauß)


Montag, den 26. Juni 2023

Am 9. Juni hat man Sibylle Lewitscharoff zu Grabe getragen. Wenige Tage später 'beschwert' sich ein Freund der Autorin über den von ihr gewählten frühen Vormittagstermin:

"Am 9. Juni um 9.30 Uhr – für mich in aller Herrgottsfrühe – hast Du Deine Beerdigung anberaumen lassen. Ich musste um 7 Uhr aufstehen, um bis zum Waldfriedhof an der Heerstraße im Berliner Westend zu kommen. Auch wieder so eine kleine rechtschaffene schwäbische Garstigkeit von Dir: 'Wegen dem bissle Sterben wird jetzt kein ganzer Tag verplempert.'"

Um dann allerdings auf die Vorbereitung der Trauerfeier zu sprechen zu kommen, die ebenfalls von der Verstorbenen - für den Freund wohl nicht nachvollziehbar - in einer Stimmung heiterer Gelassenheit minutiös vorgenommen wurde:
"Den Ablauf der Trauerfeier hast du höchstselbst noch mit den engen Freunden durchgeplant. Die neben dem Pfarrer Hannes Langbein zugelassene Trauerrednerin, Deine Freundin Dorothee von Tippelskirch-Eissing, verriet, dass Dir diese Vorbereitung eine entspannte  und gelassene Freude bereitet hat. Deine Trauerfeier, so wolltest Du es ja, war bei aller protestantischen Nüchternheit dann doch ziemlich hoffnungstrunken. Volle Kanne Johann Sebastian Bach: "Wer nur den lieben Gott lässt walten/ und hoffet auf ihn allezeit,/ den wird er wunderbar erhalten/ in aller Not und Traurigkeit"; die Gemeinde sang nicht minder inbrünstig sein Gemeindelied "Jesu, meine Freude!" – Bei der Zeile: "Weicht, ihr Trauergeister,/ denn mein Freudenmeister,/ Jesus, tritt herein", merkte ich, wie sehr mir Deine christliche Zuversicht, Deine ganz und gar ungezierte Glaubensgewissheit imponiert. Sowenig ich sie teilen kann." (Aus der ZEIT vom 21. Juni 2023)

Diese bewegenden Zeilen verraten eine unserer Zeit fremd gewordene Ars Moriendi, in der sich die Dichterin - und wie lange schon? - geübt hat. Sie erinnert die berühmte Frage des Heidelberger Katechismus aus dem Jahr 1563 und deren Beantwortung:

"Was ist dein einiger Trost im Leben und im Sterben? Dass ich mit Leib und Seele, beides, im Leben und im Sterben, nicht mein, sondern meines getreuen Heilands Jesu Christi eigen bin..."

Es ist übrigens - und dies kennzeichnet deren Bedeutung - die allererste Frage des Katechismus. Heute wäre damit zu rechnen, dass sie in einem dogmatischen Unterweisungsbüchlein für die christliche Gemeinde - wenn denn ein solches  überhaupt verfasst würde - gar nicht mehr gestellt wird: Der christliche Glaube habe doch - so heißt es in einem derzeit kursierenden Thesenpapier zum Gottesdienst, das dabei wohl kaum an unser Sterbenmüssen denkt, eher der Leichtigkeit des Seins huldigt - "zuversichtlich-fröhliche Grundstimmung" zu verbreiten...

So ändern sich die Wertigkeiten. Kein Zweifel: Sibylle Lewitscharoff hat entschlossen - und dies auch der gegenwärtigen Kirche immer wieder zornig ins Stammbuch geschrieben - der Priorisierung des Heidelberger Katechismus den Vorzug gegeben: Was kann ein Glaube überhaupt geben, wenn er nicht im Angesicht des Todes Trost zu spenden vermag.

Dienstag, den 23. Mai 2023

Fahles Licht, das den scheinbar reglos vor den Augen sich ausbreitenden See in ein Leichentuch verwandelt. Stünde jetzt Gerhard Richter am Ufer, er sähe sich zweifellos vom zwanglosen Zwang dieses Anblicks genötigt, seinen zwar stillen, freilich keineswegs idyllischen Seestücken ein weiteres Bild hinzuzufügen.

Stellt vielleicht nur noch der Tod ein geradezu unangreifbares Refugium der Stille dar? Während selbst in ehrwürdigen alten Kirchen weithin das Tabu gefallen ist und kaum einer noch von der Scheu weiß, mit der man sich sakralen Orten zu nähern, gleichsam der Schuhe des Wortes zu entledigen hat, tritt man, wenn man einen Raum aufsucht, in dem ein Toter aufgebahrt ist, wie von selbst auch durch das Tor des Schweigens. Selbst wenn im Nebenzimmer schon wieder gelärmt wird und lauthals die Dinge besprochen werden, die in Folge des eingetretenen Todes zu regeln und zu organisieren sind: Im Sterbezimmer selbst, wo langsam die Totenstarre sich des mit gefalteten Händen gebetteten Leichnams bemächtigt, wagt es nach wie vor keiner, in unverschämter Manier lauthals die Stimme zu erheben. Auf einen unhörbaren Befehl hin werden die Gespräche eingestellt, traut man sich allenfalls, das Notwendigste einander zuzuflüstern. Als würde einen plötzlich die - gerade angesichts des Todes mehr als berechtigte - Erkenntnis Marie von Ebner-Eschenbachs überfallen: „Solange man selbst redet, erfährt man nichts.“ Im Grunde sind die Toten die einzigen, die das Recht haben, in Sterbezimmern zu sprechen. Und gesegnet sind die, welche das beredte Schweigen der Toten zu vernehmen wissen.

Noch immer lässt mich der Anblick des Wassers nicht los. Leichentuch des Sees: Auch dieses schweigt sehr beredt.

Dienstag, den 16. Mai 2023

Um die Gedankenfäden des letzten Tagebuch-Eintrags vom Sonntag weiterzuspinnen: Durchaus könnte man - Max Picard folgend - auch die Ethik verschiedenen Welten entsprungen sehen und eine entsprechende fundamentale Differenz ausmachen.

Einer Ethik des Lärms müsste man dann die Signatur des aufgeregten Aktionismus zuordnen. Sie wäre ständig dabei, Gefahren oder gar Katastrophen zu beschwören, die zu sofortigem radikalen Handeln auffordern. Hätte den Charakter des Zwanghaften, der Nötigung, erst recht des Alternativlosen: Unbedingt ist jetzt und sofort einzugreifen, wie bei einem kleinen Kind, das sich anschickt, ohne über die drohenden Gefahren im Bilde zu sein, rennend eine vielbefahrene Straße zu überqueren! Die ethischen Parolen ertönen - und nicht nur bei Demonstrationen, sondern auch medial – gleichsam über riesige Lautsprecher, springen einen an in den dicken Lettern von Schlagzeilen. Eine solche Ethik beabsichtigte in erster Linie auch nicht, mit ruhigen Worten Menschen zu Einsicht und Besinnung zu bringen, selbst wenn sie sich diesbezüglich mitunter den Anschein gibt. Denn dazu fehlt, so ist sie schließlich überzeugt, eigentlich die Zeit. Deshalb geht es nur darum, Menschen dazu zu bringen, dass sie den Befehlen der heulenden Alarmsirenen umgehend Folge leisten. 

Demgegenüber eine aus der Welt des Schweigens geborene Ethik vollkommen anders gestimmt wäre. Dieses ‚Anders-Gestimmt-Sein‘ scheint auf etwa in den Anfangssequenzen von Andrej Tarkowskis Film ‚Opfer‘. (Und dies, obwohl dieses letzte Werk des Filmkünstlers den drohenden Atomkrieg in den Blick nimmt, also Anlass genug hätte, um umgekehrt einer Ethik des Lärms zu verfallen!) Dort lässt Tarkowski den auf einer schwedischen Insel lebenden und von einer tiefen Sinnkrise befallenen Intellektuellen Alexander seinem Sohn eine Geschichte erzählen, während er einen verdorrten Baum in den Boden pflanzt:

„Jetzt kannst du kommen und mir helfen, mein Junge. Einmal vor sehr langer Zeit, verstehst du, da lebte ein alter Mönch in einem orthodoxen Kloster, Pamwe hieß er, der pflanzte auf einem Berg einen trockenen Baum, genau so. Und zu seinem Schüler, das war ein Mönch, der hieß Joann Kolow, sagte Pamwe, er solle diesen Baum täglich wässern, bis er zum Leben erwachen würde. Gib mir ein paar von den Steinen da… Und so füllte Joann jeden Morgen in aller Frühe einen Eimer mit Wasser und machte sich auf den Weg. Er stieg hinauf auf den Berg und wässerte den trockenen Baumstamm, und am Abend, als es schon dunkel war, da kehrte er zurück ins Kloster. Und so ging das drei ganze Jahre lang. Aber dann, eines schönen Tages, kam per auf den Berg und sah, daß sein ganzer Baum übersät war mit Blüten! Und man kann sagen, was man will, diese Methode, dieses System hat etwas Großartiges. Weißt du, manchmal sage ich mir, wenn man jeden Tag zu der gleichen Zeit ein und dieselbe Sache tun würde, wie ein Ritual, unerschütterlich, systematisch, jeden Tag ständig zu genau der gleichen Zeit, dann würde sich die Welt verändern. Etwas in ihr würde sich verändern, es könnte gar nicht anders sein.“

Eine Ethik des Schweigens vertraute also ganz dem stillen Ritual. Eine Ethik des Schweigens hätte Zeit. Eine Ethik des Schweigens erwartete nichts weniger als das Wunder...

Der regelmäßig sich wiederholende Gang in den Gottesdienst wäre also ganz einer solchen Ethik, die darauf ist, Ethos, Haltung zu werden, verpflichtet. Und dies wäre auch der entscheidende Grund, weshalb sich - und vollkommen zurecht - Unbehagen einstellen muss, wenn in erster Linie politische Überzeugungen und Aufrufe zum Aktionismus mit ihrem Gelärm den stillen Raum des Gottesdienstes durchsetzen.

Sonntag, den 14. Mai 2023

Sonntagmorgen, gehüllt in das Kleid der Stille: Das feine Gewebe eines Nieselregens, gleichsam die Antwort des Himmels auf den Lobgesang der morgendlichen Vogelstimmen. Der Wind indessen hat entschieden, nicht mit eigenen Tönen lärmend einzustimmen, hält vielmehr den Atem an, um dann aber doch ab und an ganz zart mit den nassen Blättern der Bäume ein Saitenspiel zu beginnen. Alles scheint jedoch darauf zu warten, dass schließlich der Glockenschlag ertönt, zum Auftakt des Geläuts, das vom Kirchturm herab zum Gottesdienst ruft.

Es sagt viel über das gegenwärtige geistige Klima aus, dass man Stille nur noch als eine Art Abwesenheit von Geräusch auffasst und nicht mehr verstehen kann, dass Stille durchaus nicht mit purer Geräuschlosigkeit identifiziert werden darf. Viemehr die Stille ein klangliches Kleid trägt. Folglich ist man geneigt, das sonntägliche Glockengeläut als Lärm zu denunzieren und sich darüber als Störung einer Sonntagsruhe zu beschweren, die freilich nur noch darin besteht, sich von jenem Lärm zu erholen, in den man sich in der Nacht nicht nur aus freien Stücken hineingestürzt, sondern den man sogar als Ausdruck von höchster Lebendigkeit begeistert gefeiert hat. 

"Heute steht der Einzelne nicht mehr dem Schweigen gegenüber, auch nicht mehr der Gemeinschaft, sondern nur einem allgemeinen Lärm, und der Einzelne ... ist isoliert vom Lärm und isoliert vom Schwegen, er ist ein Verlorener."
So Max Picard in seinem 1948 erschienen Essay 'Die Welt des Schweigens'. Erstaunlich, dass dieser heute weithin vergessene Schweizer Denker bei seinem Blick auf das verheerte Nachkriegs-Europa sich nicht zuerst den Ruinen-Landschaften der Städte zuwendet, auch nicht den politischen Verrirrungen, die in die Katastrophe hineingeführt haben. Sondern diagnostisch - Picard war ja auch Arzt - als Ursache der geistigen Krise einen ganz anderen fundamentalen Irrtum und zugleich Verlust ausmacht: Indem der Mensch aus der Welt des Schweigens herausgetreten ist, hat er sich verloren. Und gleichzeitig alles, was ihn eigentlich ausmacht: vor allem aber die Sprache, das Gewicht der Worte: "Der Mensch ist durch das Wort erst Mensch, und nicht durch das Schweigen. Das Wort hat die Suprematie über das Schweigen. Aber das Wort verkümmert, wenn es den Zusammenhang mit dem Schweigen verloren hat."  Picard diagnostiziert dementsprechend bereits 1948 eine Omipräsenz des 'Wort-Geräusches'.
Ich wüsste indessen gerne, zu welchem Begriff er greifen heute würde, um die ungeheuren Steigerungen jener Omnipräsenz noch auf den Begriff bringen zu können, die mittlerweile hinter uns liegen und die wir im Zusammenhang unserer Sprechblasen-Kultur womöglich noch erleben werden.

Insofern könnte man jeden Sonntagmorgen als einen untergründigen Kampfplatz, als eine geheime kriegerische Auseinandersetzung ausmachen, von der kaum einer weiß. Nicht nur in der Ukraine tobt ein Verteidigungs-Krieg. Und vielleicht ist der Besucher der stillen Gottesdienste insgeheim auch ein Soldat. Ein Kämpfer im Heer der 'Stillen im Lande'. Picard meinte hoffen zu können, dass auch in diesem Krieg sich eine Offensive anbahne:

"Manchmal ist es, als käme es zu einem Kampf zwischen dem Schweigen und dem Lärm, und als bereite sich das Schweigen im Verborgenen auf einen Überfall vor . Mächtig ist der Lärm, aber noch mächtiger erscheint manchmal das Schweigen, so mächtig, daß es gar nicht darauf zu achten scheint, ob der Lärm da ist. Immer mehr nimmt zwar der Lärm zu, alles sammelt sich in ihm, wird Teil des Lärmes, aber vielleicht sammelt es sich nur, damit aller Lärm beieinander ist und miteinander vernichtet werden kann, wenn das Schweigen den Lärm überfällt. Vielleicht sprengt sich diese ungeheure Maschinerie des Lärmes durch ihre Heftigkeit selbst auseinander, dann ist der Knall, mit dem diese Maschinerie sich selbst sprengt, der Ruf an das Schweigen, daß die Zeit für es da ist." 
Allerdings ahnend, dass solche Hoffnung eines sehr langen Atems bedürfen könnte. Nicht von ungefähr verweist er schließlich auf bange Frage in Jesaja 21: "Hüter, ist die Nacht schier hin? Hüter ist die Nacht schier hin? Der Hüter aber sprach: Wenn der Morgen schon kommt, so wird es doch Nacht sein. Wenn ihr schon fragt, so werdet ihr doch wieder kommen und wieder fragen."

Samstag, den 29. April 2023

„Als der HERR anfing zu reden durch Hosea, sprach er zu ihm: Geh hin und nimm eine hurende Frau und Hurenkinder; denn das Land läuft vom HERRN weg der Hurerei nach. Und er ging hin und nahm Gomer, die Tochter Diblajims, zur Frau; die ward schwanger und gebar ihm einen Sohn.“ Hos 1,2f.
Die Prophetie Hoseas beginnt mit einer Zeichenhandlung. In diesem Sinne möchte ich auch David Bowies Auftritt beim Gedenkkonzert für Freddy Mercury im Jahre 1992 werten. Als ausgerechnet jener Pop-Künstler, der vielleicht wie kein anderer den Geist der Postmoderne verkörperte, das eigene Ich als einzige große Inszenierungs-Fläche begriff, sich in tausend Masken verlor, in androgynen Auftritten mit Geschlechtsidentitäten spielte, in immer wieder neuen Verwandlungen seine Gefolgschaft irritierte, verstörte und erneut begeisterte: als ausgerechnet David Bowie - Freddy Mercurys und anderen an Aids Erkrankten und Verstorbenen gedenkend - zum Gebet niederkniete und vor Tausenden Konzertbesuchern, die nicht wussten, wie ihnen geschah, im Londoner Wembley-Stadion das Vaterunser sprach...

Der zum Gebet niederkniende Bowie. Ein prophetisches Zeichen. Auch er selbst wusste womöglich nicht, was er tat. Und welche Botschaft hierdurch verkündet wurde: Einmal werden die sich der Leichtigkeit hingebenden Inszenierungs-Spiele der Postmoderne an ihr Ende kommen. Und eine neue Sehnsucht nach Ernsthaftigkeit in der Seele der Menschen geboren werden und sich in ihr ausbreiten. 

Jahre nach dem Gedenkkonzert rang Bowie mit der eigenen lebensbedrohlichen Erkrankung. Im Januar 2016 erlag er dem Krebsleiden. Einem Freund soll er in dieser Zeit bekannt haben: „Auf dem Schlachtfeld gibt es keine Atheisten“. Er hätte auch sagen können: "Auf dem Schlachtfeld wird endgültig nicht mehr gespielt."

Sonntag, 23. April 2023

Nachdem der gestrige sonnendurchflutete Samstag den endgültigen Einzug des Frühlings verkündet hat, stolpert der heutige Sonntag eingehüllt in trübes Licht, verschlafen, lau, seltsam unentschiedend darüber, welchen Weg er nun nehmen soll,  aus dem Bett der Morgendämmerung in den Tag. Irgendwelche Einflüsterungen haben mich zuletzt Antoine de Exupérys 'Brief an den General' aufschlagen lassen. Im Jahr 1943 geschrieben, gilt dieser Brief als letztes Vermächtnis des fliegenden Poeten, der ein Jahr später, am 31. Juli 1944, von einem Aufklärungsflug nicht mehr zurück kam. In diesem zweifelnden und hoffenden Dokument nimmt er nicht die militärische, gesellschaftliche oder politische Weltlage in den Blick, sondern die geistig-kulturelle. Der Brief ist dabei durchweg von der Frage durchzogen, ob dies tatsächlich eine Welt sein wird, für die im Weltkrieg zu kämpfen sich gelohnt haben wird: 

"Heute bin ich gründlich traurig — bis ins Unergründliche. Ich trauere um meine Generation, die aller menschlichen Substanz entleert ist. Nachdem sie nur Bars, Mathematik und Bugattis als Formen des geistigen Lebens kannte, findet sie sich heute in einem Herdenkrieg verwickelt, der kein Kolorit mehr hat. … Ich hasse mein Zeitalter mit meiner ganzen Kraft. Der Mensch verdurstet darin. Oh, General, es gibt nur ein Problem, ein einziges namens der Menschheit. Den Menschen eine geistige Bedeutung, eine geistige Unruhe wiedergeben. Ausgießen über sie etwas, was einem gregorianischen Gesänge gleicht. ...  Man kann nicht mehr von Kühlschränken, Politik, Bilanzen und Kreuzworträtseln leben, nicht wahr? Man kann nicht. Man kann nicht mehr ohne Poesie, Farben, Liebe leben. ... Menschenwüste. Wie brav und friedfertig sind doch diese Gruppenmenschen. … Den heutigen Menschen zähmt man, je nach dem Milieu, mit einer Partie Belote oder Bridge. Man hat uns erstaunlich geschickt kastriert. Nun sind wir endlich frei. Man hat uns Arme und Beine abgeschnitten, dann ließ man uns frei herumlaufen. Aber ich hasse diese Zeit, in der der Mensch unter einem weltumfassenden Totalitarismus zum sanften Vieh wird, still und glatt. Der Mensch, den man mit Konfektions-Kultur aufzieht, mit Standard- Kultur, wie die Ochsen mit Heu. ... Während ich schrieb, sind zwei meiner Kameraden vor mir in meinem Zimmer eingeschlafen. Ich werde mich auch hinlegen müssen, denn ich nehme an, daß mein Licht sie stört. (Wie mir doch ein eigener Winkel fehlt!) Diese beiden Kameraden sind in ihrer Art prächtig. Rechtschaffen, nobel, sauber, treu. Und ich weiß nicht, warum mich ein ohnmächtiges Mitleid ergreift, wenn ich sie schlafen sehe. Denn wenn sie auch ihre eigene Unruhe nicht kennen, ich fühle sie wohl. Rechtschaffen, nobel, sauber, treu, ja, aber erschreckend arm. Wie sehr bedürften sie eines Gottes."

Heute werde ich sieben junge Menschen konfirmieren: Wohin werden sie gehen? Werden sie sich kastrieren lassen, sich der durchweg konformistischen Kultur eines scheibaren Unkonformismus anheimgeben, der immer nur Individualismus schauspielert, ohne je Individuum zu sein?
Ach, ich wünsche ihnen und mir, dass ich heute in ihren Gesichtern 'geistige Unruhe' sehe und Sehnsucht nach Poesie, Farben und Liebe. Die Sehnsucht nach Gott...

Ein Satz aus dem Brief Saint-Exupérys hat mich indessen besonders getroffen: "Wir müssen unbedingt zu den Menschen sprechen." Ja, das wird wohl heute mein Amt sein. Vielleicht ist darin überhaupt die Aufgabe der Geistlichen in der heutigen Zeit in aller Klarheit umrissen...

Dienstag, den 18. April 2023

Im Traum zu Gast bei den Eltern in der alten Ulmer Heimstätte. Es handelt sich wohl um einen Geburtstagsbesuch, denn als es klingelt, eilt meine Mutter zur Tür und nimmt von irgendeiner, mir völlig unbekannten, Nachbarin Glückwünsche entgegen. Ich werde gebeten, mich in der Küche um das Essen zu kümmern. Als ich dem Auftrag nachkommen will und dort eintrete, werde ich von einem seltsamen Gemisch von Chaos und Leere empfangen. Von einer geordneten Kücheneinrichtung ist nichts mehr zu sehen. Zwischen ein paar wild umherstehenden vollen Kisten versuche ich, mir einen Weg zu bahnen, der indessen unversehens verstellt wird durch einen aus vielen runden Metallplatten gebildeten kuriosen Turm, der offensichtlich ein Notbehelf darstellt. Auf dem steht, bedenklich schwankend, ein mit Essen gefüllter Topf. Ich wisse ja, so bedeutet mir, mein Unverständnis bemerkend, die Mutter, dass demnächst für sie beide, Vater und Mutter, der Umzug anstehe: Die Anschaffung eines ordentlichen Herdes habe sich deshalb nicht mehr gelohnt.

Was mich indessen während des ganzen Traumes seltsam berührt, ist die ruhige, gelassene, ja heitere Art, in der die Eltern auf die widrigen Umstände verweisen und freundlich darum bitten, sie doch billigend in Kauf zu nehmen. Der anstehende Umzug, an den sie mich erinnern (und plötzlich fällt mir auch ein, dass davon tatsächlich die Reden war), scheint sie nicht im mindesten zu beunruhigen, schon gar nicht zu belasten. Als ob darin ein stilles, völlig unaufgeregtes und gänzlich bejahendes Einverständnis mit der biblischen Erkenntnis von Hebr 13,14 zum Ausdruck käme: "Wir haben hier keine bleibende Stadt."  

Im Traum habe ich die verstorbenen Eltern besucht. Der von den Surrealisten beeinflusste Ernst Jünger hätte sich nicht vor der Aussage gescheut, dass eigentlich sie, die Eltern, es waren, die mich besucht haben: Für ihn war der Traum ja immer eine Zone, in der sich verschiedene Welten, Diesseitiges und Jenseitiges, ineinanderschieben. Der psychoanalytischen Traumdeutung stand er fremd gegenüber. Mit ihr zwar dahingehend einig, dass Träume Botschaften enthalten. Allerdings entschieden andere Wege beschreitend, wenn es um die Frage geht, was sie zu bedeuten haben: Denn es macht einen Unterschied, ob der Schlafende sich im Traume gleichsam selbst besucht. Oder ob er einen Besuch empfängt, der von anderswo her kommt...

Die Sonne, die den weißen Baumblüten vor dem Fenster meines Arbeitszimmers ihr Licht schenkt, lässt auch mir ein Lächeln zukommen. Allerdings ein klein wenig spöttisch. So wie man von Menschen angelacht wird, welche die Auflösung eines Rätsels für ein Leichtes halten und diese schon längst vollzogen haben, während man sich selbst angesichts des Offensichtlichen einigermaßen dumm anstellt - und noch immer nicht versteht.

Samstag, 15. April 2023

Nachdem der Tag  mit großer Freundlichkeit durch die Stunden geschritten ist, beginnt er sich nun mit grauerem, still-verhaltenem Licht zu verabschieden. Ein Licht, das zugleich von Tönen begleitet ist. Licht ist immer auch Musik. Es gibt das mit strahlendem Blech, Trommelwirbeln und Paukenschlag einhermarschierende Licht. Das Licht des großen Orchesters, der Streichquartette, Bläserensemble, Soloinstrumente. Und auch das, was dabei auf dem Programm steht, kann denkbar unterschiedlich sein: kann etwa die leichte Muse bedienen, Bachsche Kantaten aufführen, der Melancholie Chopins verfallen oder Wagner-Opern inszenieren. Jetzt, wo der Tag sich langsam neigt, hat sich das Licht ganz der stillen Musik Arvo Pärts verschrieben: Silentium. Spiegel im Spiegel.. Und in zärtlichster Bestimmtheit vernehme ich 'My heart's is in the Highlands, my heart ist not here.' Währenddessen ertönen beipflichtend die Abendglocken. Letzterer, ganz aus der Stille geborener Gesang, habe ich erstmals in Paolo Sorrentinos Film 'La Grande Belezza' vernommen: Mitten im irrsinnigen, lauten Gockelhahn-Treiben einer selbstgefälligen römischen Großstadt-Schickeria ertönen Orgel und Stimme und bringen, ohne moralische Anklage zu erheben, deren Verlorenheit ans Licht. Die Musik weckt sanft aus einem völlig verrückten Traum, so dass man sich verwundert fragt, wie man je dorthinein geraten, sogar diese Wahnsinns-Traum-Szenerien für das eigentliche, wahre Leben halten konnte. Licht ist Musik...

Sonntag, 26. März 2023

Nach dem heutigen Gottesdienst, durchwirkt, durchseelt von der Aufführung der 'Benediktionen' des Komponisten Nikolaus Brass, ein Gespräch mit dem Tonkünstler, der mit großer Entschiedenheit darauf besteht, diese von Gott gesegnete Stunde sei mitnichten als ein 'Event' zu werten, vielmehr als ein 'Ereignis'.
Eine Unterscheidung, die geradezu prophetischer Natur ist, insofern sie eine entscheidende geistlich-geistige der Jetzt-Zeit markiert: Dem 'Ereignis' - mit Martin Heidegger - wohnt eine Daseins-Dichte inne, die von andersher kommt. Eine stille Gesammeltheit jenseits von Inszenierung, der lauten Jagd nach Aufmerksamkeit. Vielmehr ein Geführtwerden in ein inneres Zentrum, in das, was Meister Eckhart die 'Seele' genannt hat. Das Ereignis ist, was es ist: eine Gestalt des Epiphanen.
Demgegenüber ist das 'Event' gezeichnet vom unbedingten Willen, das Ereignis herzustellen. Allerdings ohne je dorthin zu gelangen. Das Event bietet alles auf, was menschenmöglich ist an fabrizierter Schönheit, Glanz, beeindruckendem Effekt, Nervenreiz. Es versucht, dem Ereignis täuschend ähnlich zu werden. Aber es bleibt doch nur Nachäffung, lächerliche Mimikry, lebt nur von der entscheidenden Absicht, als Epiphanie sich darzustellen. 
Die griechische Philosophie hat jene Differenz dahingehend zu fassen versucht, indem sie vom 'physei on' im Gegensatz zum 'thesei on' sprach: Letzteres ist das bloß Menschengemachte, Inszenierte, welches keine Legitimität für sich beanspruchen kann, da ihm der Makel der 'Mache' - ach, haben wir noch Empfindung für diesen Makel? - anhaftet. Dagegen das, was 'physei on' ist, ganz aus sich lebt, deshalb keiner Beglaubigung von außerhalb bedarf. Ihm wohnt vielmehr eine ureigene und gerade deshalb bezwingende Autorität inne. 
Im Johannesevangelium kehrt diese Differenz wieder im Dualismus von 'aus der Welt sein' und 'nicht von dieser Welt sein': Man hat das Johannesevangelium ob dieses Dualismus  gegeißelt. Hier werde ein Schematismus wirksam, welcher die Welt allzu-einfach in Gut und Böse, Licht und Dunkel einteile: das allgegenwärtige Grau in Grau des Menschlich-Allzumenschlichen in scheinbare Eindeutigkeit auflösend...

Der heutige Gottesdienst indessen hat jeder vermeintlich so berechtigten Kritik am existenziellem Dualismus - ganz gleich, welche Begrifflichkeit er sich gibt - eine Absage eigener Art erteilt. Ich gebe Nikolaus Brass recht: Ereignis ist Ereignis. Und Event ist Event... 

Dass diese Differenz weder gewahrt, noch weniger realisiert, vielmehr ignoriert wird, macht vielleicht die eigentliche Tragik der gegenwärtigen Kirche aus.
 

Sonntag, den 5. März 2023

Der Soziologe Andreas Reckwitz hat vor vier Jahren eine Analyse der Gegenwart vorgelegt und sie ‚Gesellschaft der Singularitäten‘ genannt: Inmitten einer durchgehend von Uniformitätszwängen gekennzeichneten Zeit, in der sich alles dem Diktat der Funktionalisierung beugen muss, habe sich in den vergangenen Jahrzehnten der entschiedene Wille zum Besonderen durchgesetzt: Egal ob es um den Urlaubsort, die Kleidung, den Wohnstil oder Konzertereignisse geht: Alles muss, wenn irgend möglich, das Signum des Unverwechselbaren tragen, von der Aura des Einzigartigen umhüllt sein. Wem dies abgeht, wer die damit einhergehenden Ansprüche nicht erfüllen kann, versinkt in den trüben, seichten Gewässern des Allzugleichen und ist zur Bedeutungslosigkeit verdammt. Nichts und niemand könne sich schadlos diesem neuen Diktat entziehen. Wer und was in der Welt der Singularitäten etwas gelten will, hat deren Spielregeln zu folgen.

Das Geschäft des Soziologen besteht nun nicht darin, sich irgendeinem Normativen zuzuwenden und irgendeine Welt zu entwerfen, wie sie gefälligst zu sein hat: Er versucht vielmehr, sich ein Bild von der real existierenden Menschen-Welt zu machen und deren Machtstrukturen- und Faktoren sichtbar werden zu lassen. Leben wir also nun in einer Welt, in der sich tatsächlich der Individualismus vollkommen realisiert hat?

Hier wäre doch weiter zu fragen. Etwa dahingehend, ob nicht doch besser nur von der Sehnsucht nach dem Besonderen zu sprechen wäre: Alle strecken sich also einerseits nach dem Einzigartigen aus, während umgekehrt alle Anbieter auf den Marktplatz des Besonderen ihrem Produkt den Anschein des Einzigartigen zu geben versuchen. Was der Soziologe also als ein gesellschaftliches ‚Sein‘ verstanden zu haben meint, könnte also genauso als großangelegter ‚Schein‘ begriffen werden. Schon der dialektischen Logik entsprechend: Wenn alle nach dem Besonderen, nach dem Einzigartigen streben, dann sind sich doch alle darin seltsam gleich. Und dahinter stünde dann keineswegs ein Individualismus, der sich vollkommen realisiert hat. Sondern lediglich eine sich Bahn brechende, alles umgreifende Sehnsucht danach, die womöglich am allermeisten ersehnt, was sie am allermeisten verloren hat.  Dann wäre also umgekehrt mit dem Philosophen Wolfgang von der Weppen von einem Zeitalter des ‚verlorenen Individuums‘ zu sprechen!?! 

Eine Sichtweise, deren Inspirator unter anderem Ernst Jünger ist, insbesondere dessen späte Erzählung ‚Eumeswil‘. Eigenartig nun, dass – wie ich heute entdecken durfte – ausgerechnet einer der großen Antipoden Jüngers, der durch und durch einer aufklärerisch-linken Haltung sich verschreibende Walter Jens, in seinem frühen Roman ‚Nein. Die Welt der Angeklagten‘ den gleichen Untergang des ‚letzten Individualisten‘ beschrieben hat:  

„Tommy Croyden war einer von zwei Milliarden. Sie hatten verschiedene Namen, aber da sie alle gleich waren, war es ganz unnötig, dass sie die Namen kannten. (…) Im Sommer war es heiß, im Winter kalt und manchmal regnete es. Am Tage schien manchmal die Sonne und abends ging manchmal der Mond auf. Sonne und Mond blickten auf einen nicht sehr großen Planeten. Gestalten lebten auf ihm. Früher nannte man sie: die Menschen.“

Freitag, den 24. Februar 2023

Von einer langen Reise geträumt. Die dann zwar unvermittelt endete - allerdings ohne dass mir dieser Umstand in irgendeiner Weise seltsam vorgekommen wäre - am von Hecken und Bäumen umgebenen Grab der Eltern. Beim Anblick steigen in mir Worte auf im Empfinden einer Ankunft, die zugleich Heimkunft, Rückkehr zu den eigenen Wurzeln ist: "Dort liegen Vater und Mutter." Der Friedhof ein Ruhe-Ort nicht nur für die Toten, sondern auch für die Lebenden. Auf der Rückseite des Grabsteins lese ich - auch dies nehme ich völlig ohne Erstaunen zur Kenntnis - den Namen einer vor einem Jahr verstorbenen jungen Frau. Und ebenso, den freilich von einem Zweig leicht verdeckten Namenszug von Joseph von Eichendorff. Und weiß unvermittelt, dass darüber, auch wenn ich sie nicht sehe, jene berühmten Gedichtzeilen eingraviert sein müssen: "Und meine Seele spannte, weit ihre Flügel aus. / Flog durch die stillen Lande, /als flöge sie nach Haus."  Ein Erwachen dann in einem tiefen inneren Frieden.

Für die jüngeren Generationen, so erlebe ich es wenigstes, ist der Gang zu den Gräbern der Eltern und Großeltern längst nicht mehr eine selbstverständliche Übung. Und nicht nur weil die eigene Wohnstatt oft zu weit entfernt liegt, so dass der Besuch des Friedhofs einem eine zu große Beschwernis auferlegen würde. Sondern weil einem der Aufenthalt in der eigenen Gegenwart genügt. Fast könnte man meinen, es würde insgeheim der eschatologisch gestimmten Aufforderung Jesu Folge geleistet ‚Lass die Toten ihre Toten begraben‘. Aber natürlich entspringt die gegenwärtige Art und Weise der Gegenwärtigkeit keineswegs einer eschatologischen Haltung. Vielmehr gehört sie zu den Kennzeichen eines geistigen Nomadentums, welches sich nirgendwo mehr wirklich verwurzelt weiß. Selbst wenn man physisch an Ort und Stelle verbleibt und die meisten Tätigkeiten, äußerlich betrachtet, eine immerwährende Wiederkehr des Gleichen darstellen, durchschreitet man doch die Zeit wie ein Nomade: Man lebt im Jetzt. Die Vergangenheit lässt man hinter sich. Nur das unabdingbar Notwendige nimmt man mit. Alles andere ist lediglich Ballast.

Die alttestamentliche Überlieferung weiß davon, dass der Anfang vom Ende des Nomadentums das Grab ist: Indem der Ahnvater Abraham von den Hethitern die Grabhöhle Machpela erwirbt (1. Mose 23), vollzieht sich der erste entscheidende Schritt jener Landnahme, die Generationen später den Kindern Israels eine Heimstatt schenken wird. Für mich ein Hinweis dafür, dass unser gegenwärtiges Nomadentum erst dann enden wird, ein neues Verhältnis zu Grab und Tod gewonnen haben. Erst dann wird es wieder so etwas wie An- und Heimkunft geben.

Sonntag, den 12. Februar 2023

Zuweilen gibt es merkwürdige Lektüre-Korrespondenzen: Autoren, die nichts miteinander zu tun haben, treten mittels eines Lesers in einen Disput, den sie sonst nie geführt hätten. Und der Kampfplatz ist das arme Hirn dessen, der durch seine harmlose Lektüre den Disput angezettelt hat... So bin ich dieser Tage, über die Rolle und Bedeutung der Kirche in Vergangenheit und Gegenwart nachdenkend, auf die alte, so wirkmächtig gewordene Antwort Immanuel Kants gestoßen auf die Frage: Was ist Aufklärung:

"Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. U n m ü n d i g k e it  ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. S e l b s t v e r s c h u l d e t ist die Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung der Entscheidung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! ist also der Wahlspruch der Aufklärung." 

Im gleichen Zusammenhang aber bin ich auch wieder gestoßen auf die ebenso wirkmächtige  'Legende vom Großinqusitor', die Dostojewski in seinen 'Die Brüder Karamasoff' erzählt.
Bekanntlich spielt diese Legende "in Spanien, in Sevilla, zur schrecklichen Zeit der Inqusition, als dort zum Ruhme Gottes täglich Scheiterhaufen auf zum Himmel flammte und man in 'prunkvolllem Autodafé verruchte Ketzer verbrannte.'" 

In dieses Spanien kehrt Christus noch einmal wieder in seiner menschlichen Gestalt und erscheint ausgerechnet auf dem Platz, wo, "gerade erst tags zuvor ... vor den Augen der zahlreichen Einwohnerschaft Sevillas vom greisen Kardinal-Großinqusitor fast ein volles Hundert Ketzer ad majorem gloriam Dei auf einmal verbrannt worden war. ... Er ist ganz still unbemerkt erschienen, aber alle - sonderbar ist das -, alle erkennen Ihn."... Eine unwiderstehliche Maccht zieht das Volk zu IHM hin; es umringt Ihn, wächst mehr und mehr um Ihn an und folgt Ihm, wohin er geht. Er aber wandelt stumm unter ihnen mit einem stillen Lächeln unendlichen Mitgefühls. Die Sonne der Liebe brennt in Seinem Herzen, Strahlen von Licht, Erleuchtung und Kraft strömen aus seinen Augen, und alle, über die sie sich ergießen, sind ergriffen von Gegenliebe zu Ihm." 
Christus heilt einen Blinden, erweckt ein totes Mädchen zum Leben. Im gleichen Augenblick erscheint der Großinqusitor auf dem Platz: "Er sieht, wie das Mädchen aufersteht, und Sein Gesicht verfinstert sich. Er runzelt die grauen, buschigen Augen, und Sein Blick erglüht unheilverkündend." Der Großinquisitor lässt Christus ergreifen und in ein Verließ werfen. Dort sucht er ihn des Nachts auf, befragt ihn, erklärt sich, bedroht ihn mit der Todesstrafe. Christus aber antwortet ihm nur mit dem berühmten Kuss: "Nachdem der Inquisitor verstummt ist, wartet er noch eine Weile, was der Gefangene ihm antworten werde. Dessen Schweigen bedrückt ihn. Er hat gesehen, wie der Gefangene ihn die ganze Zeit anhörte, und wie tief und still Er ihm in die Augen blickte, offenbar ohne etwas entgegenen zu wollen. Der Greis aber hätte gewünscht, dass Er ihm etwas sage, und wäre es es selbst etwas Bitteres, Furchtbares. Er aber nähert sich schweigend dem Greise und küsst ihn still auf die blutleeren neunzigjährigen Lippen. Das ist Seine ganze Antwort. Der Greis zuckt zusammen. Und dann erbebt etwas an den Mundwinkeln des greisen Großinquisitors; er geht zur Tür des gewölbten Verlieses, öffnet sie und sagt zu Ihm: 'Geh und komm nie wieder ... komme überhaupt nicht mehr ... nie, wieder, nie wieder!' Und er lässt ihn hinaus auf die dunklen Gassen der Stadt."

Mit Recht hat man in dieser Legende Dostojewskis Abrechnung mit der (insbesondere katholischen) Machtkirche erblickt. Dass diese Abrechnung auch eine Absage an den Menschen beinhaltet, wird zumeist unterschlagen. Denn der Großinqusitor ist keinesfalls nur dem eigenen Machtstreben verfallen. Sondern er sieht auch die Conditio humana: die Unfähigkeit des Menschen, die eigene Freiheit zu leben, sie sogar nicht einmal zu ertragen. Der Mensch - so der Großinqusitor - ist schlicht mit der eigenen Freiheit überfordert: "Aber morgen noch werde ich Dich richten und Dich als ärgsten aller Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrennen, und dasselbe Volk, das heute noch Deine Füße geküsst hat, wird morgen auf einen einzigen Wink meiner Hand zu Deinem Scheiterhaufen hinstürzen, um eifrig die glühenden Kohlen zu schüren, - weißt du das? ... Hast Du nicht damals so oft gesagt; 'Ich werde euch freimachen?' Jetzt hast Du sie gesehen, diese 'freien Menschen!' fügt der Greis plötzlich mit sinnendem Spottlächeln hinzu: 'Ja, die Sache ist uns teuer zu stehen gekommen', fährt er fort, indem er Ihn mit strengem Blick ansieht". 

Mit anderen Worten: Die aufklärerische Hoffnung Kants muss scheitern. Denn der Mensch verbleibt lieber in der eigenen Unmündigkeit. Wo wäre der Mut, sich des eigenen Verstandes zu bedienen "ohne Leitung eines andern"?  
Die Legende hat zweifellos ihre kritische Wirkung entfaltet. So hat sich der Mensch mittlerweile von der Macht der Kirche freigemacht. Allerdings hat in anderer Hinsicht der greise Großinquisitor recht behalten: Denn die Stelle der Kirche füllen nun andere Autoritäten: Inzwischen haben Therapeuten und Lebensberater die Macht ergriffen, die sich teilweise nicht scheuen, einen ihnen Anvertrauten zuweilen sogar über viele, viele Jahre - also nicht um ihn in die eigene Entscheidungsfähigkeit zurückzuführen - in der Abhängigkeit zu halten...

Vor kurzem erfuhr ich von einem Mädchen, das mit gerade 14 Jahren schon einen Coach hat... Was für ein wunderbarer Start ins eigene Leben! Und was für ein Fortschritt im Sinne der Aufklärung!

Donnerstag, den 29. September 2022

Ernst Jünger hat die Prophetie nie nur als eine der unmittelbaren Gegenwart sich zuwendende Hellsicht im Sinne einer scharfsinnigen (und noch dazu lediglich im Feld des 'Politischen' angesiedelte) Zeitdiagnostik begriffen. Und sich darum immer von Deutungen distanziert, die seine Erzählung ‚Auf den Marmorklippen‘ aus dem Jahr 1939 als eine das nationalsozialistische Deutschland in den Blick nehmende prophetische Widerstandsparabel verstanden haben. Das prophetische Element der Literatur ist vielmehr ein Saatgut, das in anderen und tieferen - Jünger sprach immer von alle Gegenwart transzendierenden, ‚zeitlosen’ - Zeitschichten eingelagert ist. Es kann auch nicht vom Autor intendiert werden. Vielmehr ist es ihm vollkommen entzogen, fließt geradezu unbeabsichtigt, ohne dass er davon Ahnung hat, in sein Schrifttum ein. So dass einer meint, die gegenwärtige Epoche in den Blick zu nehmen. Aber Jahrzehnte später enthüllt sich, dass das damals Geschriebene - das Saatgut der Prophetie hat im dunklen Erdreich der Zeit zu keimen begonnen und tritt nun aus dem Ackerboden ans Licht - einer ganz anderen Gegenwart gilt als jener, an welche der Autor ursprünglich gedacht hat. Und nun im Sinne einer Hellsichtigkeit, die einen so unmittelbar anspringt, dass man sich ihrer mit aller Macht erwehren müsste, um ihr nicht innerlich, von plötzlichem Erkennen überwältigt, zuzustimmen. Was eigentlich für eine längst vergangene Vergangenheit gedacht und geschrieben war, enthüllt auf einmal in einem anderen Jetzt - und noch viel hellsichtiger - seine Wahrheit: „Ja, so ist es!“

In diesem Sinne wird man nicht umhinkommen, Gedanken Dietrich Bonhoeffers aus dem Jahr 1932 prophetisches Saatgut zuzusprechen: 

„Grauenvoller als je zuvor spitzen sich die Dinge zu - Millionen hungernder Menschen mit schlecht vertrösteten und unerfüllten Wünschen, verzweifelte Menschen, die nichts zu verlieren haben als ihr Leben und die mit ihrem Leben nichts verlieren - gedemütigte und entehrte Völker, die ihre Schande nicht verwinden können, - politische Extreme gegen politische Extreme, Fanatisierte gegen Fanatisierte, Götzen gegen Götzen - und dahinter eine Welt, die in Waffen starrt wie nie zuvor, eine Welt, die fieberhaft rüstet, um durch Rüstung den Frieden zu gewährleisten, eine Welt, deren Götze das Wort ‚Sicherheit‘, ‚sécurité‘ geworden ist, - eine opferlose Welt, voll Misstrauen und Argwohn, weil ihr noch die vergangenen Schrecken in den Gliedern stecken - eine Menschheit, die vor sich selbst zittert, eine Menschheit, die ihrer selbst nicht sicher ist und jederzeit bereit, sich selbst Gewalt anzutun - wie darf sich hier einer die Augen verschließen ob der Tatsache, dass die Dämonen selbst die Herrschaft der Welt angetreten haben, dass es die Gewalten der Finsternis sind, die sich hier schauerlich verschwören und jeden Augenblick losbrechen können - wie darf einer meinen, mit ein bißchen Erziehung zu internationalem Verstehen mit ein bißchen gutem Willen ‚good will‘ diese Dämonen auszutreiben und zu bannen?“

Montag, den 19. September 2022

Die Beerdigung der alten Dame. Eine Fülle von Bildern. Über der durch und durch würdigen Trauerzeremonie das Geplapper von Kommentatoren und mehr oder weniger berufener Zeitzeugen. In der Kirche etliche, vor allem jüngere Gesichter, die offensichtlich den alten anglikanischen Chorälen ratlos gegenüberstehen. Auch die Übersetzer der biblischen Schriftlesungen sind offensichtlich nicht mehr mit der religiösen Sprache vertraut: Sie wissen - es ist von 'promises' die Rede - nichts mehr von Gottes 'Verheißungen'. Ihr Gott liefert lediglich, einem Politiker gleich, 'Versprechen' ab.

Vor allem aber: Kein Wort über jene kleine, fromme Frau, die vor einem Jahr in stiller Trauer um ihren verstorbenen Mann einsam und allein im Chorgestühl saß, in sich und ins Gebet versunken, im wahrsten Sinne des Wortes sich als 'Königin von Gottes Gnaden' verstand, jeden Tag in der Bibel las, sich dem einfachen Vertrauen auf das Wort der Schrift und das Werk der musikalischen Glaubenszeugen (auch Bach!) anheimgab, aber (gerade deshalb auch?) den langen Predigten misstraute...

Ich vermute, diese säkulare Welt, die davon nichts mehr verstand und auch davon nichts mehr wissen wollte, ist ihr immer fremder geworden.

Donnerstag, den 4. August 2022

Drückende Hitze. Der Physiker beziehungsweise Chemiker verbindet damit erhöhte Schwingungen der Teilchen. Und eine damit einhergehende Instabilität der Verbindungen, mitunter das Eintreten anderer Aggregat-Zustände. Menschen, Tiere und Pflanzen äußern sich gegenteilig: statt erhöhter Akzeleration tritt man ein in eine Art Erstarrung. Man verharrt regungslos unter der Sonne wie unter der Peitsche eines Sklaventreibers in der Hoffnung, unbemerkt zu bleiben, dadurch drohenden weiteren Schlägen zu entgehen. Verbindet man beide Perspektiven, ergibt sich eine sehr treffende Beschreibung der gegenwärtigen Weltlage. Ob nun Klima oder Krieg: man empfindet einerseits einen äußerst erhöhten Pulsschlag der Zeit. Dinge sind in Bewegung, die man kaum mehr aufzuhalten, noch weniger zu kontrollieren zu vermag. Andererseits empfindet man sich wie das Kaninchen vor der Schlange: Man verharrt vollkommen erstarrt in der freilich nicht sehr großen Hoffnung, dass die Gefahr an einem vorüber ziehen möge. Und ist doch erfüllt von der Angst: was wird passieren, wenn die Schlange zustößt? 
Es gäbe viel zu sagen im Blick auf diese Angst. Die Ratlosigkeit. Die Überreaktionen, weil man den eigenen Wohlstand (oder muss man sagen: die eigene Komfort-Zone?) bedroht sieht. Und wie wenig man hat, um der Lage metaphysisch Stand zu halten. Das diesbezügliche Kapital ist schon lange nicht mehr vorhanden. Man hat sich zu sehr damit beschäftigt, das Bankkonto mit schwarzen Zahlen zu füllen. Um die spirituellen Leerstände war man kaum besorgt. Wir werden wohl Zeiten erleben, in denen die Überzeugung Ernst Jüngers sich bewahrheiten wird:
"In Lagen, denen gegenüber die Klügsten versagen und die Mutigsten auf einen Ausweg sinnen, sieht man zuweilen einen mit der Ruhe das Rechte raten, das Gute tun. Man kann sich darauf verlassen, daß das ein Mann ist, der betet."
 

Donnerstag, den 23. Juni 2022

"Solange die Schafe wandern, gerät die Welt nicht aus den Fugen". In dieserm Satz des polnischen Schriftstellers Andrzej Stasiuk spricht sich ein Urvertrauen in soziale Archetypen aus, die jenseits dessen stehen, was den Bewegtheiten, Umtrieben, dem Irrsinn und der Gewalt der Springerstiefel der sogenannten 'Geschichte' angehört. Der Hirte, welcher - wie schon sein Urgroßvater, Großvater und Vater - seine Schafe hütet, sie von Weide zu Weide führt, als Geburtshelfer den Mutterschafen beisteht, seine Herde schützt und schert und doch demütig hinnimmt, dass dem wilden Getier und der unbarmherzigen Witterung Opfer zu bringen sind...

Er hat gesehen, wie die Legionen an ihm vorbeigezogen sind, um der Weltmacht Rom neue Provinzen zuzuführen. Er hat gesehen, wie die Heerzüge der Landsknechte und Söldner über die Dörfer herfielen, Bauern und Vieh hinschlachteten. Er beobachtete von weitem, wie die große Armee Napoleons sich nach Russland wälzte. Von den großen Schlachten der Weltkriege hörte er, ohne sich von den Soldaten irgendwelcher Mächte, die sich in seine Täler verirrten, groß beirren zu lassen: Denn für ihn gibt es nach wie vor jene Welt jenseits der Geschichte, die ihr nicht unterworfen ist: "Solange die Schafe wandern, gerät die Welt nicht aus den Fugen".

Dass diese archetypische Welt im Schwinden begriffen ist, bemerkt indessen Stasiuk auch. Deshalb bewegt er sich auf seinen Reisen nach Osten: Um die Reservate der Archetypen zu besuchen - solange es sie noch gibt. (Bald werden sie einem Zoo gleichen, für den man Eintritt bezahlt, um dessen Schaukäfige inmitten von Massen zu bestaunen.) Was umgekehrt von einem insgeheimen Grauen zeugt: Wie wird wohl eine Erde aussehen, auf der keine Schafe mehr wandern?

Freitag, den 10. Juni 2022

In einer Regensburger Buchhandlung entdecke ich eine neuere Biographie über Gretha Jünger, der im Jahr 1960 verstorbenen ersten Frau Ernst Jüngers. Beim Durchblättern fällt mir auf, dass die Schilderung mit deren Todestag am 20. November endet. Kein Wort über die Beerdigungsfeierlichkeiten...
Man darf schlussfolgern: Dass es hierüber mittlerweile nichts mehr zu sagen gibt - in althergebrachten biographische Arbeiten waren sie zumindest Anlass für einen Epilog -, hat wohl auch etwas zu sagen. Das Bestattetwerden ist kein Bestandteil des Lebens mehr, nicht einmal des Sterbens: Eine Biographie hat deshalb - in üblicher antimetaphysischer Gestimmtheit - mit dem letzten Atemzug zu enden.

Mittwoch, den 8. Juni 2022

Die Altstadt von Passau, die, so suggeriert jedenfalls der Stadtplan, eingezwängt zwischen Donau und Inn, in engen Gassen zerteilt sich entlang der beiden Ufer dahinstreckt, als wäre sie selbst ein in vielen Läufen sich auffächernder kleiner Fluß. 

Beim Abschreiten der Sträßchen bestätigt sich diese Suggestion indessen nicht: Nichts fließt. Vielmehr verstärkt sich der Eindruck einer Beengtheit, welche sich nicht einfach nur der üblichen mittelalterlichen Straßenanlagen zuschreiben lässt. Vielmehr erhebt sich schon die ein wenig an Kafkas Schloss gemahnende Burganlage am jenseitigen Donauufer ebenso Gehorsam fordernd wie mögliche Wünscheä abweisend, also wenig Vertrauen einflößend über das Städtchen. Auch die an den Knotenpunkten verteilten kalten Kirchen wirken weniger wie Zeugen gelebten Glaubens. Eher wie geheime Wächter, welche sich - anders als die lediglich abstrakte Herrschaft ausübende Burg - sehr für das in den Gassen und Häusern konkret gelebte Leben und an dessen Kontrolle interessiert zeigen. 

An diesem untergründigen Empfinden, das natürlich längst vergangenen Zeiten entspringt und sie erinnert, kann letztlich auch die Vielzahl moderner Galerien und kunsthandwerklicher Geschäfte nichts ändern, die ungemein warm und freundlich in die Gassen hinauslächeln. 

Wenn man jedoch vom ebenfalls kaum für sich einnehmenden Domplatz aus den alten Kern verlässt, schwinden Bedrohlichkeit und Enge. Fast scheint die Stadt aufzuatmen. Man gibt sich deutlich lockerer, lebendig und weltoffen. Umgehend geraten wir in einer Weinbar in ein entsprechendes, der Leichtigkeit des Seins huldigendes Gespräch. Allerdings begegnet man nun auch der üblichen modernen Gesichtslosigkeit: An die Stelle der liebevoll gestalteten kleinen Läden treten nun die vielen Filialen jener Ketten, wie sie in jeder größeren Stadt zu finden sind, sie austauschbar machen und ihr letztlich die Seele nehmen. Auch hier also Erstarrtes - inmitten gelebter Lockerheit…

Passau: Das ungelöste Ineinander einer Vergangenheit und einer Gegenwart. Von beidem wünscht man sich zu verabschieden. Und sehnt sich nach einem anderen Dritten: Nicht nur Passau müsste endlich und wirklich eine Stadt von Donau, Inn und Ilz - also eine Stadt der Flüsse werden…

 

Samstag, den 4. Juni 2022

Zuweilen springen einen während der Lektüre Sätze wie Raubtiere an, die wie aus dem Nichts auftauchen. Man ist brav den Gedanken des Autors gefolgt, hat das gepflegte Gespräch mit ihnen gesucht, die Argumente gewogen, für bedenkenswert erklärt, ist gewissermaßen Arm in Arm mit ihnen auf den sicheren Straßen einer sittsamen Kleinstadt spazieren gegangen. Um sich mit einemal in die Wildnis versetzt zu sehen: Statt gepflegter Gehsteige plötzlich der unbegehbare dichte Pflanzenwuchs eines Dschungels oder die bedrohliche Weite einer Savanne, in der man die Gegenwart von Löwen oder Hyänen vermuten muss und nichts auf eine menschliche Behausung hindeutet, in die man sich retten könnte. Und wie aus einem Hinterhalt wird man plötzlich angegriffen, sieht fletschende Zähne vor sich, nach Hand und Bein schnappende Mäuler, derer man sich kaum zu erwehren weiß. 

So erging es mir heute mit einem Satz von George Bataille: "Die Wahrheit des Verbotes ist der Schlüssel zu unserer menschlichen Haltung. Wir müssen, können zuverlässig wissen, daß uns die Verbote nicht von außen auferlegt wurden. Dieses Wissen gewinnen wir in der Angst, im Augenblick, da wir das Verbot überschreiten."  

Was mich so angreift und die Zähne in meine Seele und in mein Denken hineinbohrt, ist die unvermutet mir bedrängend den Weg verstellende Frage, ob wir überhaupt noch an irgendeiner Stelle eine solche Angst empfinden, von der Bataille spricht. Die Angst vor einem Tabubruch. Die Angst, sich an einem Verbot zu vergehen.  Wenn es tatsächlich so wäre, wie eine Stimme in mir unverhohlen vermutet, dass alle solche Angst sich verflüchtigt hat, entschwunden ist, wäre der Schluss unabweisbar, dass es im Grunde auch keine echten Verbote mehr gibt. Alles wäre, obgleich es äußerlich noch den Charakter eines Verbotes trüge, wie man heute sagt 'händelbar': Man macht sie sich zurecht, wie man es braucht. Brauchen kann. Brauchen will. 

Ich sehe deshalb den Satz Batailles durchaus an der Seite eines anderen, berühmten von Dostojewski: „Wenn es keinen Gott gibt, dann ist alles erlaubt.“ Dem ist freilich heftig widersprochen worden. Schließlich gäbe es  ja die Vernunft, die vollkommen ausreiche, um Moralität zu gewährleisten... Aber hätte je einer Angst empfunden, der sich anschickte, die Regeln und Normen der Vernunft zu verletzen? (Gäbe es eine solche Furcht, sähen ua. die gegenwärtigen öffentlichen Diskurse gewiss anders aus.) Wenn die Vernunft von einem Tabu geschützt wäre, dann gäbe es sicher auch besagte Übertretungsfurcht. Aber die Vernunft kennt kein Tabu. Denn sie ist niemandem im eigentlichen Sinne des Wortes - ein Begriff, der sich wohl doch nicht so einfach der Sphäre des Religiösen entwenden lässt - 'heilig'. Deshalb kann man sie - selbst wenn die französische Revolution diesen Versuch unternommen hat - auch nicht anbeten. Umgekehrt hatte man lange vor Gott und seinen Geboten in der Tat Angst. Und die Kirche hat sich dies reichlich zunutze gemacht. Weshalb sie auch heute von der Moderne heftig mit Verachtung gestraft wird. Die Frage ist nur: Muss man nicht langsam davor Angst haben, dass es hinsichtlich des Brechens eines Verbotes kein furchtsames Erschauern mehr gibt? Und vielleicht ist deshalb auch - und wieder einmal - Botho Strauß recht zu geben: "Ein jedes Tabu ist besser als ein zerstörtes."

Mittwoch, den 25. Mai 2022

Nachdenken über Daniel 7. Die Vision des großen Tiers, der dunklen Chaosmacht...

Anders als bei den Griechen hat die Mythenwelt Mesopotamiens und Ägyptens das Chaos, aus dem die Schöpfung erwuchs, nie als endgültig besiegt betrachtet. Vielmehr verbleibt es als ständige Bedrohung, als äußerste Gefahr, die immer wieder neu gebannt werden muss. Im Pharaonenreich ist es der ägyptische Herrscher, der als 'Bild Gottes' diesen Kampf  zu bestehen hat. (Das Alte Testament hat hier gewissermaßen eine Demokratisierung vorgenommen, indem es dem Menschen schlechthin diesen Hoheitstitel zukommen ließ.)

Auch der als Schöpfungs-Logos wirkende Christus ist der große Chaos-Überwinder: "Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat's nicht ergriffen."  

Aber erst am Ende, so schließlich das apokalyptische Denken ebenso des Danielbuches wie der Offenbarung des Johannes, wird das Tier besiegt und vernichtet sein. Bevor jedoch dieses Ende eintritt, befinden wir uns immer in einem Krieg. Mit anderen Worten: Einen Frieden hat es noch nie gegeben. Einzelne Kriege kommen und gehen, entstehen und verschwinden wieder. Der Krieg bleibt. 

Ich erinnere einen 30 Jahre alten Satz von Botho Strauß, der sich wie ein säkular-moderner Kommentar dazu liest: "Zwischen den Kräften des Hergebrachten und denen des ständigen Fortbringens, Abservierens und Auslöschens wird es Krieg geben." (Aus: 'Anschwellender Bocksgesang', 1993)

Freitag, den 20. Mai 2022

In einem frühen Erwachen am Morgen gewahre ich das erste zart heraufdämmernde Licht, das vom Lobpreis hundertfacher Vogelstimmen empfangen wird. Ein Ritus, in dem etwas vom Uranfang, vom ersten Tag des Lebens aufstrahlt, etwas Reines und Unbeflecktes hat. Eine Liturgie auch, welche die Natur mit sich selbst zu feiern scheint, ohne dass die Menschenwelt an ihr teilnehmen soll. Und ich komme darum mir ein wenig vor wie ein ungebetener Bettler, der sich, obwohl er dort nichts zu suchen hat, einschleicht bei einem Empfang hoher Gäste, und sich noch dazu heimlich am reich gedeckten Büfett bedient, um vom Gesang gesättigt wenig später wieder einzuschlafen. Geweckt werde ich dann vom Gekreisch irgendwelcher Sägen, von Gehämmer und Geklopfe und Zurufen. Diesmal wird mir gewahr, dass dieser zweite Weckruf, dieser Gesang der Arbeit, der Mechanik, der Maschinen mich seit meiner Ankunft in Langenargen unter der Woche fast jeden Tag begleitet. Was nichts anderes bedeutet, dass ich mich daran weitgehend gewöhnt habe...

Ich wundere mich, aber immer und überall gibt es anscheinend etwas zu bauen. Und wenn die Bauarbeiten am letzten Haus einer Straße beendet sind, beginnt das Sägen, Hämmern und Bohren erneut am ersten: Wirklich fertig scheint man nie zu werden. Ist je so viel gebaut wie heute? Wo sind keine Kräne und Bagger zu sehen mitsamt allem anderen zum Bauen nötige Fuhrwerk? Wenn man allein darauf sieht, könnte man geradezu den Eindruck gewinnen, wir befänden uns in einer großen Epoche der Baumeisterei.

Was die geistigen Landschaften angeht, muss man indessen zum gegenteiligen Urteil kommen. Gebäuden gleich, die von der Gewalt einer langsam anrollenden, schließlich mit höchster Gewalt und Geschwindigkeit ins Tal stürzenden Lawine erfasst wurden, sind insbesondere in den vergangenen Jahrzehnten die Wohnhäuser, in denen die Menschen geistig gewohnt haben, niedergewalzt worden, ist eine metaphysische Obdachlosigkeit von größtem Ausmaß entstanden. Nur dass sie weithin noch nicht bemerkt worden ist: Man meint gewissermaßen in Straßencafés zu sitzen und genießt die Sonne und das bunte Leben im Glauben, man könne ja, wenn es gewittert, sich jederzeit nach drinnen begeben. Aber die vermeintlichen Eingänge in den schützenden Innenraum sind nur Fassaden-Türen Potemkinscher Dörfer. Wenn man sie öffnet, blickt man erneut in eine Landschaft, über die Gewitterwolken sich auftürmen.

Michel Houellebecq hat eine der Fassaden-Türen geöffnet: „Jedes Mal, wenn ich auf eine Beerdigung gehe, spüre ich, dass der Atheismus unserer Gesellschaften unerträglich geworden ist.“

Geistig bauen wir nicht, sondern reißen ein. Aber vielleicht sind es ohnehin nicht wir, welche die Welt geistig errichten. Sondern die Vögel, die hymnisch den Morgen begrüßen.

12. Mai 2022

Nach den drei abendlichen Gedanken-Gängen durch das Buch Hiob hat sich eine Hoheitsgestalt dessen, was Glaube in seinem innersten Sinn bedeutet, herauskristallisiert: Während zu Beginn des Hiobbuches schon gewichtig genug die Frage in den Raum gestellt wird, ob Hiob denn wirklich 'umsonst' gottesfürchtig sei, also sich glaubend Gott zuwendet ohne irgendeine Erwartung bezüglich eines 'Glaubens-Profits' zu hegen (Hi 1,9) und daraufhin die Prüfung erfolgt, indem Hiob alles verliert, was er hat, leuchtet in all den Klagekämpfen und im Ringen um ein Leid-Verstehen schließlich ein Wissen um eine Gottesbeziehung auf, die durch nichts zerstört werden kann: weil sie in nichts Vorfindlichem mehr besteht.

Auch das eigene Ich, das was wir an eigener, unverwechselbarer Persönlichkeit zu besitzen glauben, gehört zu diesem Vorfindlichen. Weshalb in diesem weisheitlichen Buch zwar das religiöse Ich das Licht der Welt erblickt, zum ersten Mal im Alten Testament also eine unhintergehbare Subjektivität für sich Geltung beansprucht - an die Stelle des religiösen Diskurses mit den Freunden muss denn auch der unmittelbare Dialog zwischen Hiob und seinem Gott treten -, gleichwohl nicht dieses Ich, das unhintergehbare Subjekt es ist, welches sich als letzter Fluchtpunkt erweist: Denn nachdem dem religiösen Ich mit Namen Hiob alles genommen wurde, was er hatte, sich dieses Ich also an nichts Äußerlichem mehr klammern kann, bedenkt Hiob in äußerster Radikalität auch noch die Zerstörung der eigenen personalen Existenz in Leib und Seele, um nichtsdetotrotz, ja um so emphatischer ein Bewahrtwerden in einer unmittelbaren, transzendiert-personalen Gottesschau zu beschwören: "Ich selbst weiß, dass mein Erlöser lebt, als letzter steht er auf über dem Staub (meines Leichnams), und nachdem meine Haut so geschunden, und auch ohne mein Fleisch schaue ich Gott, ja ich selbst werde ihn für mich schauen, meine eigenen Augen sehen ihn, nicht ein Fremder, mögen auch meine Nieren in meinem Innern geschwunden sein." (Hiob 19,25-27)

Ich folge der Übersetzung des Alttestamentlers Hartmut Gese. Und auch dessen Auslegung: "Ja, Hiob weiß, daß er diese Annahme durch Gott selbst schauend erfährt..., wenn Hiobs physische Augen längst mit seinem Körper vergangen sind." 

Kein Tempel bleibt: Der mit Steinen gemeißelte Tempel in Jerusalem wurde mit der heiligen Stadt zerstört: Die noch vorhandenen Mauern dienen nur noch der Klage. Auch der aus Fleisch, Sehnen, Muskeln, Herz, Blut, Bewusstsein und Hirn bestehende Tempel der eigenen Personalität wird der Zerstörung anheimfallen. (Vielleicht weil alles Festgefügte Gott nicht zu schauen vermag? Im himmlischen Jerusalem gibt es jedenfalls keinen Tempel mehr...)

Auch das Subjekt muss also noch transzendiert werden. Der Subjektivist Sören Kierkegaard wusste darum. Unsere so subjektsverhaftete Moderne hat diesen Schritt offensichtlich noch nicht getan: Der jahrtausendealte Hiob ist ihr an dieser Stelle noch immer voraus. Hoffentlich nicht weitere Jahrtausende...

Samstag, den 30. April 2022

Dieser Tage verströmt der Frühling sein messianisches Licht: Also nicht gleissend, nicht laut, nicht mit gebieterischem Gestus aufsteigend über den See. Vielmehr sich zurücknehmend, leise, bereit zu demütigen Dienst, wie es sich einem Gottesknecht geziemt, welcher "nicht lärmt in den Gassen" (Jes 42).

Ob heute wohl in Moskau ein ähnliches Licht leuchtet? Man würde es sich wünschen. Und noch mehr, dass es diejenigen sehen, die es sehen sollten. Darauf zu hoffen, gibt es indessen wenig Anlass. Der dem Messianischen Entgegenstehende ist schließlich der vollkommen Verstockte, der offenen Auges doch blind ist und sich selbst der offensichtlichsten Wahrheit, bis in die letzten Fasern des eigenen Willens hinein, nicht öffnen kann. Aber noch während er verblendet die Rollläden, damit ja kein einziges Lichtritzlein verbleibt, herabkrachen lässt, vollkommen überzeugt ist, er würde die Fenster weit öffnen, um Welt und Wahrheit ehrerbietig zu sich hereinzubitten. 

Jedenfalls dieser Tage messianisches Licht des Frühlings über dem See. Nach vielen Gesprächen der letzten Monate der Eindruck, dass  auch hier die Verstockungen zugenommen haben. Lediglich die Linde, die so kranke, hat den Ruf des Lichts vernommen, hat innerhalb weniger Tage ihr Blattwerk entfaltet, um das Licht wie ein Kelch für sich einzufangen. Sie hat verstanden: "Die einzige Weisheit, die wir erwerben können, ist die Weisheit der Demut: Demut ist ohne Ende." (T.S. Eliot)

 

Samstag, den 23. April 2022

Olivier Messiaens 'Et exspecto resurrectionem mortuorum'. Angesichts der archaisch- drohenden Schwere, mit der das Stück anhebt und diese auch nie verlässt, wäre man geneigt - schließlich war Messiaen Zeit seines Lebens bekennender Katholik - an die üblichen Gerichtsvorstellungen eines Requiems zu denken: das Zittern der auferstehenden Kreatur vor dem Erscheinen des Richters. Je länger aber das Stück voranschreitet, legt sich - wenigstens mir - eine andere Deutung nahe: Messiaen scheint mir vielmehr das Osterevangelium in den Blick zu nehmen: "Und sie kamen zum Grab am ersten Tag der Woche, sehr früh, als die Sonne aufging. Und sie sprachen untereinander: Wer wälzt uns den Stein von des Grabes Tür? Und sie sahen hin und wurden gewahr, dass der Stein weggewälzt war; denn er war sehr groß." (Mk 16)

Auferstehung also als ein ungeheures, alle Kräfte Gottes beanspruchendes Ereignis, weil der Stein vor dem Grab - das Katastrophengebirge der gesamten menschlichen Geschichte seit Adam verkörpernd - unendliches Gewicht hat. Messiaen zeichnet dieses Wegwälzen nach: Stets ist die Gefahr, dass der Stein - wie bei Sisyphos - wieder zurückrollt, das Grab wieder verschließt...

Nach dem Tag der Auferstehung wird sich Gott länger ausruhen müssen als nach der Vollendung seiner Schöpfung. Vielleicht sogar eine Ewigkeit lang... 

Wer könnte Messiaen, die Schwere der schuldig gewordenen, der Tragik verfallenen Welt bedenkend, in diesen Tagen nicht folgen? 

 

Dienstag, den 12. April 2022

„Die Modernität wird nicht mit ihren sanften postmodernen Ausläufern beendet, sondern abbrechen mit Kulturschock.“

Man wird heute diese bald 30 Jahre alte Prognose von Botho Strauß kaum lesen können, ohne dass einem ein Schauer über den Rücken läuft. Der letzte Mensch Nietzsches, der das Lied der Behaglichkeit singt und träumend davon überzeugt ist, das Glück erfunden zu haben, ist, so scheint es, durch die Ereignisse der letzten Jahre und zuletzt durch die furchtbare Auferstehung des in Europa längst und endgültig tot geglaubten Kriegsgottes, wie durch einen gellenden Angstschrei sehr unsanft geweckt worden. Er fährt erschrocken aus dem Bett, schlägt die Decke zurück und entdeckt, dass die Stätte, wo er gelegen, mitnichten, wie der Traum ihm friedlich und freundlich zusang, durch Fortschritt und festem Glauben an das Gute im Menschen vom Unrat des alten Adam gereinigt wurde. Vielmehr muss er entdecken, dass der Menschheits-Wahn es sich in all seinen Facetten ebenso gemütlich und bequem gemacht hat wie er. Vom Laken zugedeckt, im warmen Dunkel ausgebereitet, ein stärkendes Schläfchen gehalten hat, um bereit zu sein, wenn schließlich seine Stunde gekommen ist. Und lacht dem letzten Menschen mit aller ihm zu Gebote stehenden Häme ein „Ich bin noch da!“ frech ins Gesicht.

Und er, der letzte Mensch, der zuletzt den alten Passionsgesängen ihre Schwermut vorwarf, sie für eine lebensverneinende Zumutung hielt und immer ungehaltener sich weigerte, sie auch nur zu vernehmen, beginnt, zutiefst entsetzt darüber, mit wem er da träumend im Bette lag, die Choralstrophe anzustimmen: „O, Mensch bewein‘ dein Sünde groß!“

Aber während die Welt der Menschen sich entweder wild entschlossen und tatkräftig in das aufgewühlte Meer des Wahnsinns stürzt oder aber in Angst und Entsetzen erstarrt, malt der See, als wollte er sich Gerhard Richter für ein weiteres Bild empfehlen, ein einzigartiges Stillleben: ein lichtdurchtränkter, glatter, von keiner einzigen Welle getrübter, ganz der Sonne sich darbietender Spiegel, nur leicht verhüllt durch das Kleid eines feinstofflichen Nebels, der sich über das flache Gewässer erhebt und langsam aufsteigt, um sich schließlich im Glanz des Sonnenlichts aufzulösen.

Mittwoch, den 6. April 2022

Im Zusammenhang eines erneuten Bedenkens der heiligen Gabe des Abendmahls, eines theologischen Umkreisens der Einsetzungsworte – mich auch dessen entsinnend, wie ich in den ersten Jahren meines Pfarrdienstes, damals beseelt vom Wunsch, liturgisch „in der Gegenwart der Himmlischen würdig zu stehen“ (Hölderlin), tief eintauchte in den Kosmos des Herrenmahls – kommt man nicht umhin, auf jenen abgrundtiefen Graben zu stoßen, der uns Heutige von den Jahrhunderten früherer eucharistischer Frömmigkeit trennt. Zwar ist durchaus auch gegenwärtig die Klage darüber zu vernehmen, dass die Zeit der Pandemie uns die Feier des Abendmahles weithin genommen habe. Aber triebe der Abendmahls-Entzug uns noch in die äußerste Verzweiflung? Käme uns der Ausschluss aus der Abendmahlsgemeinschaft noch wie eine geistliche Hinrichtung vor? Als ein Entreißen aller Seligkeit, als ein Hinausgestoßen-Werden in die gottlose Nacht der Verdammnis? Niemand hätte damals gewagt, was unserer heutigen Zeit so leicht von der Hand geht: auch nur daran zu denken, sich dieses heilige Sakrament zu eigen zu machen und darüber in der Weise eigenmächtig zu verfügen, dass man, wie es einem passt, es sich ‚passend‘ macht.

Kierkegaards pathetisches Insistieren hatte noch eine andere Subjektivität im Blick. Eine Subjektivität, die mit Lust bereit ist, sich vor der Wahrheit in den Staub zu werfen, wenn sie denn nur, mein Herz berührend, die meine wird: „Es kommt darauf an, meine Bestimmung zu verstehen, zu sehen, was die Gottheit eigentlich will, daß ich tun soll; es gilt, eine Wahrheit zu finden, die Wahrheit für mich ist, die Idee zu finden, für die ich leben und sterben will. ... Was nützte es mir, daß die Wahrheit kalt und nackt vor mir stünde, gleichgültig dagegen, ob ich sie anerkennte oder nicht...?“

Mitnichten hat Kierkegaard einer sich bemächtigenden Subjektivität das Wort geredet. Den von Matthias Claudius sich an den Sohn richtenden Worten hätte er sich unbedingt angeschlossen: „Die Wahrheit richtet sich nicht nach uns, lieber Sohn, sondern wir müssen uns nach ihr richten.“

Das Wort ‚Subjektivität‘ – so ist wohl zu konstatieren - hat seit Kierkegaard einen deutlich anderen Zungenschlag bekommen. Sie klingt nun nach dem Willen zur Macht. Immerhin: Hinsichtlich der Wahrheit erfasst uns wenigstens langsam ein geheimes Grauen: Wir beginnen zu ahnen, welche Folgen es zeitigt, wenn sich die Wahrheit tatsächlich nach uns zu richten hat… 

 

Donnerstag, den 10. März 2022

"Sie kamen 
mit scharfen Fahnen und Pistolen /
schossen alle Sterne und den Mond ab /
damit kein Licht uns bliebe /
damit kein Licht uns liebe /
Da begruben wir die Sonne /
Es war eine unendliche Sonnenfinsternis."

Die Waffengattungen haben sich geändert. Rose Ausländer müsste heute andere benennen. Nichtsdestotrotz: schwerer wiegen die Übereinstimmungen zu jenen Vorgängen, welche die Dichterin mit psalmistischer Tiefe beklagt.

Der im letzten Tagebuch geschilderten Besuch bei der alten Dame hat mir noch eine andere, hintergründigere, vielleicht auch tiefgründigere Zerstörung vor Augen geführt: Am Ende unseres Gesprächs sangen wir gemeinsam den Choral 'Befiehl du deine Wege'. Auch hier waren der den jetzigen Alltagsangelegenheiten dement gegenüberstehenden Frau alle Strophen bekannt. Zuweilen zitternd, stockend, sperrig wie ein rostiges Schloss, in dem schon lange kein mehr Schlüssel gedreht wurde. Aber doch schnell sich anschließend, wenn die Strophen-Spur vorgegeben wurde.
Der alte Choral: in ihrem Bewusstsein wie das alte Elternhaus, in dem man aufgewachsen ist, welches freilich schon lange nicht mehr Zuwendung erfahren hat, also wahrlich nicht mehr auf dem neuesten Stand ist (um nicht zu sagen geradezu verwahrlost), aber noch immer Heimatlichkeit atmet...

Ich glaube, die Tragödie der jetzt aufwachsenden Generationen wird darin bestehen, dass sie noch nicht einmal dieses im Zerfall begriffene Haus haben werden. Dieses Seelen-Gebäude, welches nur in der Innerlichkeit einer aus Wiederholung sich bildenden Erinnerung errichtet wird, Stockwerk um Stockwerk aus einem beständigen Memorieren sich aufbaut: Man hat die Lieder in der Kirche gesungen, in der Küche, an der Wiege, an der Bahre....

Eine Generation, die glaubt, dass man jederzeit Informationen abrufen kann, also nichts mehr memorierend der eigenen Innerlichkeit aneignen muss, baut solche Häuser nicht mehr. Dement geworden, wird sie nichts mehr haben, in einen Abgrund der Leere stürzen. 

Dienstag, den 8. März 2022

Sie spricht, als wäre es gestern geschehen: Die Vertreibung ihrer Familie aus der Ukraine nach dem Beginn des deutschen Angriffs 1941 auf die Sowjetunion. Wie Vater und Bruder verhaftet und verschleppt wurden, den Befehl erhielten, Bäume zu fällen und Baracken zu errichten: "Baut oder verreckt in der Kälte!". Schließlich in irgendeinem Lager umkamen. Sie erzählt vom stalinistischen Terror, vom Holodomor, dem großen Hunger, dem Millionen von Ukrainern zum Opfer fielen, von Verhaftungen und Erschießungen, kommt wieder zurück auf die Vertreibung nach Kasachstan...

Und sie, die sich kaum merken kann, wer noch vor wenigen Stunden sie besuchte, ist vollkommen der Daten eingedenk, weiß genau, wann und wie wie das anonyme Räderwerk der Geschichte das Leben der einzelnen Familienmitglieder -  sie nennt jedes mit Namen - erfasste und unter sich zermalmte. Erzählt von Briefen, die sie noch erreichten. Von Berichten der Augenzeugen, die dabei waren, als..., und  gesehen hatten, wie ... - und schließlich den Verbliebenen berichteten. Schicksale, wie sie die Filme von Theo Angelopoulos, vor Augen die Brutalität der politischen Mächte, wieder und wieder erzählen. Und sie spricht, als wäre es gestern geschehen: Außer Atem, als wäre sie gerade eben noch um ihr Leben gerannt, als hätte sie vor kurzem in diesem Zimmer vor den Verfolgungen Zuflucht gesucht. Um nun atemlos Zeugnis abzulegen von dem, was geschah...

"Ich werde heute Nacht nicht schlafen können, Herr Pfarrer", bemerkt sie, die in wenigen Jahren ein Jahrhundert vollendet haben wird, am Ende erschöpft.

Es ist nicht nur die - ewige Wiederkehr des Gleichen - furchtbare Synopsis von damals und heute, die mich berührt:

Espenbaum, dein Laub blickt weiß ins Dunkel.
Meiner Mutter Haar ward nimmer weiß.

Löwenzahn, so grün ist die Ukraine.
Meine blonde Mutter kam nicht heim.

(Heute berichten die Kriegsreporter aus dem nun auch von russischen Bomben bedrohten Czernowitz Paul Celans...) 

Sondern mehr noch der verborgene Hinweis auf die Bürde der Erinnerungen. Vielleicht kann sie letztlich nur von Gott getragen werden? Wird es so am Ende sein: Während er - als erneut Gekreuzigter? - die Last der Welt auf sich lädt, nichts vergisst, alles in Erinnerung behält, wird er unsere Tränen abwischen, soll sagen: uns gnädig einer großen, alles Schmerzliche uns abnehmende Demenz zuführen? 

Sonntag, den 27. Februar 2022

„Der wohl hervorstechendste und auch erschreckendste Aspekt der deutschen Realitätsflucht liegt in der Haltung, mit Tatsachen so umzugehen, als handele es sich um bloße Meinungen."

Dieses Phänomen, das Hannah Arendt hinsichtlich der Vergangenheitsbewältigung des Nachkriegs-Deutschland diagnostiziert hat, scheint eine geistige Globalisierung und Zuspitzung erfahren zu haben.

Mit anderen Worten: Der Mathematik-Professor muss zur Kenntnis nehmen, dass seine Studenten, die freilich genau dies lauthals bestreiten, das kleine Einmaleins nicht mehr beherrschen. Während wiederum schon die Kellner die Überzeugung vor sich her tragen, sie seien auf dem Feld der komplexen mathematischen Formeln und Gleichungen weit bewanderter als die gesamte universitäre Akademikerschaft, weil sie sich in der Lage sehen, die Rechnungssummen mit Hilfe eines Taschenrechners zu ermitteln. Und das Irrsinnigste daran: In den Weiten des Internet finden sowohl die Studenten wie die Kellner immer auch Mitstreiter, die sie in ihrer Sicht der Dinge bestätigen. 

Der spanische Großvater eines Journalisten - ich entnehme dies einem Interview - muss wohl zu diesem Phänomen gemeint haben, früher habe jedes kleine Nest seinen Dorf-Irren gehabt, der indessen mit seiner verschrobenen Sicht der Dinge einsam blieb. Nun aber hätten via digitaler Kommunikation die Irren aller Dörfer der gesamten Welt die Möglichkeit, sich zu vereinen und mit missionarischem Impetus ihre vermeintlichen Einsichten herauszuposaunen: Und sie fänden auch immer einen, der ihnen gläubig Gehör schenkt.

Freitag, den 25. Februar 2022

Wenn der Wolf den Schafspelz abwirft, finden weitere Enthüllungen statt.
Demaskiert werden zunächst jene, die - wissentlich oder nicht - voller Entrüstung alle denunzierten, die sich nicht abbringen ließen von ihrer festen Überzeugung, dass es inmitten der Schafsherde doch nach Wolf stinkt: Die empörten Denunzianten werden nun als nützliche Idioten entlarvt.
Eine Demaskierung findet weiter statt bei denjenigen, die dem Maskenspiel, das nun ein Ende gefunden hat, als großartigem macchiavellistischem Kunstwerk Beifall und Bewunderung zukommen lassen: Sie geben sich nicht nur als Zyniker, sondern ihrerseits als Wolf zu erkennen, der - er ist deshalb in dieser Disziplin geradezu ein Gourmet geworden, weiß also Kennerschaft zu würdigen - sich in anderen Schafsherden auch schon gerne in Maskenspielen gefallen hat. Und sich über weitere diesbezügliche Gelegenheiten überaus freuen würde.

Domine, miserere nobis!

Donnerstag, den 24. Februar 2022

Der heute, gleichsam die Bitterkräuter zerkauend eines - ewige Wiederkehr des Gleichen - scheinbar Unabwendbaren wieder und wieder zu memorierende Bibeltext: "Aber Jesus rief sie zu sich und sprach: Ihr wisst, dass die Herrscher ihre Völker niederhalten und die Mächtigen ihnen Gewalt antun. So soll es nicht sein unter euch..." Mt 20,25f. 

Montag, den 21. Februar 2022

Von Mal zu Mal erneut überrascht die Art und Weise, wie den letzten Tagen und Stunden eines Menschen eine ungeheure Bedeutung zugesprochen wird. Während es sonst keine einzige Frage wert ist, wie einer genächtigt und danach das Bett verlassen, mit welchen gewohnten morgendlichen Abläufen er dem Tag den Weg bereitet hat, um in wiederum alltäglichen Prozeduren dem Lauf der Sonne zu folgen bis zum Einbruch der Nacht, so wird, wenn es dem Ende entgegen geht, jede Drehung des Kopfes, jede Handbewegung des Sterbenden sorgfältig registriert: Hat sich Unruhe seiner bemächtigt oder liegt er ruhig und von einem geheimnisvollen Frieden erfüllt darnieder? Was hat er zuletzt gegessen und getrunken? Hat er noch bemerkt, wer aus der Familie gekommen und wer gegangen ist, jetzt ihm zur Seite sitzt? Was ist auf den immer brüchiger werdenden Brücken des Gesprächs und der einander zugeworfenen Blicke noch hin und her gewandert? Wann begann die Gesichtsfarbe sich zu verändern, wurden die Glieder kühler, machten sich die ersten Anzeichen des unmittelbar bevorstehenden Todes bemerkbar? Und wie hat der Vater, die Mutter schließlich das Leben ausgehaucht? 

Banalitäten, über die man sonst kein Wort verlieren würde, bekommen auf einmal ungeahntes Gewicht, werden zu geheimen Botschaften, deren Sinn und Bedeutung man zwar nicht zu entziffern vermag, ihnen jedoch gleichwohl  entnimmt, dass ihnen hoher Sinn und Bedeutung zukommt. Daher auch die Faszination der letzten Worte und der Rang der ihnen zugesprochen wird: Selbst die unscheinbarste Allerweltswahrheit kann hier den Status tiefer philosophischer Weisheit erlangen. (Als Beispiel mögen die letzten Worte des irischen Schriftstellers Donn Byrne dienen, der unmittelbar vor der Autofahrt, bei der er tödlich verunglückte, den Zurückbleibenden zurief: "Ich denke, ich mache noch eine Fahrt vor dem Abendessen. Kommt jemand mit?")

Seit Jahren sinne ich darüber nach: Was hat dieser Umschlag im Angesicht des Todes von Banalität in Bedeutung, von Geplapper in Weisheit zu sagen? Und: Erschließt sich möglicherweise dadurch etwas von dem, was der Tod eigentlich ist

Mittwoch, den 16. Februar 2022

Nachtrag zu meinem Tagebucheintrag vom 4. Februar - die heutige Gestalt des Atheismus betreffend.

Dieser Tage bin ich auf eine Bemerkung von Botho Strauß gestoßen, in der er den schwedischen Film-Künstler Ingmar Bergman trefflich als Atheisten charakterisiert, "der vom Glauben wie von Dämonen heimgesucht wurde."

Angesichts dessen kommt man nicht umhin zu konstatieren, dass wohl auch der Atheismus eine Art von Säkularisierung erfahren hat. Der heutige Atheist wird nicht mehr heimgesucht. Von tiefgründigeren Zweifeln am Atheismus nicht. Und schon gar nicht von Glaubens-Dämonen: Die sind schlicht verschwunden. 

Dies lässt mich an Luther denken, der gerade die Anwesenheit von Dämonen als Zeichen besonderer Gottes-Präsenz gedeutet hat: Demnach ist, wo Gott erscheint, der Teufel mit aller Macht bestrebt, die Epiphanie Gottes dämonisch zu bekämpfen und sie zu verdunkeln. Wenn das Licht des Evangeliums aufleuchtet, folgt unweigerlich der Angriff der Anfechtungen. Und wo Gott seine Kirche errichtet, baut der Teufel seine Kapelle daneben. Wenn die Dämonen dagegen ausbleiben, kann mit Sicherheit davon ausgegangen werden, dass die Mächte des Bösen keinen Anlass sehen, um in irgendeiner Weise tätig zu werden und auf sich aufmerksam zu machen. Darum der Grundsatz Luthers: 'Nulla persecutio - tota persecutio'. Dort wo scheinbar keine dämonische Verfolgung mehr stattfindet, ist man den Dämonen bereits so totaliter anheimgefallen, dass sie sich scheinbar schlafen gelegt haben.

In diesem Sinne wäre der zweifelsfreie Atheismus nicht nur begrifflich-nüchtern als 'vollendete Gestalt des Atheismus' zu bezeichnen. Sondern als Typos, dem man ein erneutes Auftreten von Dämonen dringend wünschen muss: Seliger Ingmar Bergman!

Montag, den 14. Februar 2022

Heimfahrt vom Freiburger Klinikum am See entlang, der mit Hilfe von Wolken, Licht, Wasser und schneebedecktem Gebirg ein Gesamtkunstwerk komponiert von solcher Schönheit, dass man kaum den Blick abwenden kann. Vielleicht nicht in einem strahlenden C-Dur gehalten, aber doch heiter genug, um gegenüber dem zurückliegenden, durch und durch von schmerzlichen Akkorden grundierten Aufenthalt in und vor der Intensivstation als äußerster Gegensatz erlebt zu werden. 

Ersten Impulsen folgend ist man deshalb geneigt, von einem geradezu brutalen 'Wenig-Bekümmert-Sein' der Schönheit zu sprechen, wie sie auch Hölderlin angesichts eines betörend-schönen Mondaufgangs erlebt haben muss:

„Sieh! und das Schattenbild unserer Erde, der Mond,

Kommet geheim nun auch; die Schwärmerische, die Nacht kommt,

Voll mit Sternen und wohl wenig bekümmert um uns,

Glänzt die Erstaunende dort, die Fremdlingin unter den Menschen,

Über Gebirgeshöhn traurig und prächtig herauf.“

Oder - das ist die Frage - bedeutet dieses 'Wenig-Bekümmert-Sein', dieses von uns als brutal erlebte, schlichte Übergehen der menschlichen Schmerzwelt -  etwa wie ein Reicher, deren bittende Rufe unbarmherzig überhörend, an Reihen von Bettlern vorbeischreitet - etwas anderes?

Ist sie vielleicht ein nur von uns nicht verstandener Ruf, sich von dieser Schmerzwelt nicht blenden zu lassen? Das Gesamtkunstwerk des Sees also ein Engel, der mitnichten herzlos und brutal ist, sondern mit der Macht seiner Schönheit uns in den Wüsten des Todes Verdurstenden einen reich gefüllten Krug mit Wasser, den Hungernden einen Brocken Brot des Lebens reicht? „Steh auf und iss! Denn du hast einen weiten Weg vor dir.“

War vielleicht Léon Bloy von solcher Auferstehungs-Schönheit der Natur berührt, als er sich zu der Aussage hinreissen ließ, der Tod bedeute nicht viel mehr als das Abwischen von Staub von einem Möbelstück? (Man hat ihm übrigens später hinsichtlich dieser Bemerkung ebenfalls Herzlosigkeit vorgeworfen. Er selbst, der Bettler aus der Tiefe, der zwei Sohne an den Hunger verlor, hätte wohl daraufhin entgegnet, dass er sich selbst von einfühlsamen Satten nicht den Trost des Evangeliums nehmen lasse...) 

Freitag, den 11. Februar 2022

Mit Recht hat man Luther als großen Propheten zu Beginn der Moderne gefeiert. Allerdings hat man dieses Prophetenamt – so etwa Hegel – lediglich als Wegbereitung des entscheidenden geistigen Prinzips der Moderne verstanden: Luther als derjenige, welcher der Subjektivität die Tür geöffnet, ihr Eintritt und unbestrittene Geltung verschafft habe: „So ist hier das Prinzip der Subjektivität, der reinen Beziehung auf mich, die Freiheit nicht nur anerkannt, sondern es ist schlechthin gefordert, daß es nur darauf ankomme im Kultus, in der Religion.“

Propheten sehen indessen – und das hat man dabei gerne übersehen – selten etwas kommen, um es zu feiern. Ihre Berufung ist auch nicht die, dem Kommenden den Weg zu bereiten. Das was sie eintreten sehen, gilt ihnen vielmehr als höchste Gefahr, als Bedrohung und tiefste geistige, geistliche Krisis. Genau dieses eigentliche Prophetenamt ist Luther im Blick auf die hereinbrechende Moderne zuzusprechen. Im berühmten Bild des ‚Homo incurvatus in se‘ hat er die entscheidende, sich immer weiter herauskristallisierende Bewegung der Moderne erfasst: das ewige ‚Um-sich-selbst-Kreisen‘ des Egos, der narzisstische Tanz des Ich um die eigene Mitte mit der damit einhergehenden Unfähigkeit, auch nur einmal von sich absehen zu können. Das Ich in der Mitte. Und alles um es herum: Mittel zum Zweck, dem Beifall klatschenden Echo. Statt zu hören, gilt der geheime Imperativ, sich Gehör zu verschaffen. Statt die Welt in ihrer Schönheit zu betrachten und vielleicht sogar in der Betrachtung sich staunend aufzulösen, gilt das Gesetz der Selbstinszenierung: Im Selfie wird die Welt zum schmückenden Beiwerk des sich selbst rühmenden Ich.

Was geschieht nun mit dem Gespräch? Mit dem Dialog? Mit dem Zuhören? Mit der Aufmerksamkeit? Mit der Anteilnahme? Letztere werden fordernd eingeklagt, wenn sie einem selbst nicht gewährt werden. Von sich selbst verlangt man sie nicht ab, wenn man sie einem anderen schenken müsste…

Andreas Maier hat in seiner Frankfurter Poetik- Vorlesung bemerkt: das „Ich, diese drei Buchstaben sind der Mittelteil des Wortes Nichts, das Nichts umschließt das Ich…” 

Zu Beginn der Moderne steckte dieses Nichts noch verborgen im Sack. Luther hat es erahnt, hat es gerochen. Mittlerweile ist es längst aus dem Sack gekrochen. Was wir derzeit erleben, ist vielleicht dies, dass es sich nun in voller Größe entfaltet und ausbreitet.

Donnerstag, den 10. Februar 2022

Tage im Februar, die geradezu grandioses Frühlings-Theater inszenieren. Wir lassen es uns indessen gefallen und nehmen mit großer Dankbarkeit entgegen, was die Sonne unserer nach der Berührung von Licht sich sehnenden Haut an warmen Küssen zukommen lässt. Und dies, obgleich wir ahnen, nein: wissen, dass dies alles nicht echt sein kann. Den Frühlings-Botschaften, denen zwar unsere Sehnsucht so gerne Glauben schenken würde, ist jetzt, der Februar hat gerade erst begonnen, noch nicht zu trauen.

Aber warum nicht für ein paar Tage solcher Illusion sich hingeben, so wie man zuweilen sich gerne von der Idylle eines kitschigen Filmes verzaubern lässt, der zu schön ist, um wahr zu sein?  Auch dies genießt man, selbst wenn jede Szene untergründig die Signatur trägt: „Welch Schauspiel! aber ach! ein Schauspiel nur!“

Freitag, den 4. Februar 2022

Eine Politikerin, die sich bekanntermaßen ein durchaus solides Fundament an geistiger Bildung angeeignet hat, wird in einem Interview gefragt: "Bei religiös überzeugten Menschen gibt es immer wieder Zweifel am Glauben. Gibt es bei Ihnen auch ab und an Zweifel am Atheismus?" Sie antwortet - und anscheinend ohne auch nur einen Moment zu zögern: "Eigentlich nicht." 

Man mag in Rechnung stellen, dass ein Interview vielleicht nicht der Ort ist, um die Türen zu den innersten Kammern der Seele zu öffnen und sich, was die eigenen geistigen Grundhaltungen angeht, zu bestehenden leisen Zweifeln zu bekennen. Dennoch meint man hier doch herauszuhören, dass nicht die äußere Szenerie für die prompte Antwort verantwortlich ist. Sondern eine innere Entschiedenheit, mit der man zwar zugesteht, dass es noch immer so etwas wie Religiosität gibt. Aber angesichts dessen sich nur äußerst wundern kann. Ein wenig wie ein Biologe, der beim besten Willen nicht versteht, warum eine bestimmte Tierart angesichts fundamental veränderter Umweltbedingungen noch immer nicht ausgestorben ist. 

Mir ruft diese Position in Erinnerung, dass man in der Theologie zumindest stets bemüht war (die Wortwahl deutet schon an, dass diesem Bemühen nicht unbedingt immer Erfolg beschieden war), die Glaubensgewissheit nicht in eine jeden Zweifel ausschließende Glaubens-Sicherheit zu überführen. Insofern steht man doch einigermaßen frappiert vor einer atheistischen Überzeugung, die sich im Status der Securitas anscheinend sehr wohl fühlt: Man sieht sich - was für ein schöner Zustand! - gänzlich frei von Zweifeln! 

Indessen kann man - gerade auch auf dem Feld der Religion - beobachten, dass es an dieser Stelle wenig angebracht ist, von Freiheit zu reden: Zwar kommt - dies der Triumpf aller Unangreifbaren - niemand in die Burg der Securitas hinein. Niemand vermag sie zu erstürmen. Aber es kann ihr auch niemand entkommen. Wer in ihr lebt, für den sind und bleiben diese eng begrenzten Burgmauern des eigenen Bewusstseins: die Welt!

Man sollte also besser vom Gefängnis der Zweifellosigkeit sprechen. 

Dienstag, den 2. Februar 2022

Das Sichaufschwingen der Infektionszahlen in den letzten Wochen in kaum für möglich gehaltene Höhen. Aber vielleicht ist dieser Infektions-Zuruf gar nicht so sehr als Warnung oder Drohung zu vernehmen im Sinne eines 'Keiner von euch wird mir entkommen!'? Sondern viel mehr als Spiegel, ja geradezu als ärztliche Diagose: "Merkt ihr nicht, dass ihr alle schon lange krank seid? Muss ich es euch immer noch, wieder und wieder und noch einmal sagen und zeigen?" 

Überhaupt die Dimension des Unvorstellbaren, die der Pandemie von Anbeginn innewohnt: Kierkegaard hätte sie wohl als Angriff des Göttlichen auf die geistlose Bequemlichkeit des Spießbürgers gedeutet, als ein von der Transzendenz veranlasstes In-die Verzweiflung-Führen eines Denkens, das sich immer nur innerhalb der engen Grenzen des Vertrauten aufhält, phantasielos die gewohnten Bahnen des Für-Möglich-Gehaltenen abschreitet und sich mit allen Mittel weigert, auf die grenzenlosen Möglichkeiten Gottes sich aufmerksam machen zu lassen: 

"Spießbürgerlichkeit ist Geistlosigkeit, ... aber Geistlosigkeit ist auch Verzweiflung. Die Spießbürgerlichkeit geht im Wahrscheinlichen auf, in welchem das Mögliche auch sein bißchen Platz findet; aber daß alles (auch das Unwahrscheinliche, das Unmögliche) möglich sei, das kommt ihr nicht in den Sinn, und so wird sie auch nicht aufmerksam auf Gott. Ohne Phantasie, wie der Spießbürger immer ist (er sei Bierwirt oder Staatsminister), lebt er in einem gewissen trivialen Inbegriff von Erfahrungen: wie es zugehe; was möglich sei; was zu geschehen pflege. So hat er sich selbst und Gott verloren. Denn daß der Mensch auf sein Selbst und auf Gott aufmerksam werde, dazu muß die Phantasie ihn höher hinauftreiben als bis zum Dunstkreis des Wahrscheinlichen, muß ihn aus diesem herausreißen, und ihn, indem sie möglich macht was das quantum satis aller Erfahrung überschreiet, hoffen und fürchten oder fürchten und hoffen lehren. Aber Phantasie hat der Spießbürger nicht und will er nicht haben; sie ist ihm nur als phantastisch zum Ärgernis und kann ihn also nichts lehren. Hilft denn das Dasein mit Schrecken nach die die Papageienweisheit der trivialen Erfahrung überschreien, so verzweifelt die Spießbürgerlichkeit; das heißt: so wird offenbar daß sie Verzweiflung war."

Dies übrigens ein Abschnitt aus jenem Werk, in dem Kierkegaard die Krankheit als eine Grundbefindlichkeit des Menschen herausstellt, die sich in vielerlei Spielarten äußert. Dem 'Verzweifelt-nicht-man selbst sein-Wollen' des Spießbürgers wäre das die 'Verzweiflung, verzweifelt man selbst sein zu wollen' an die Seite zu stellen. Die Verzweiflung der Ruhelosen, die ewig suchen und nie finden. Während der Spießbürger sich allzusehr einrichtet im Glück des Geistlosen, richtet sein Gegenstück sich in seinem Unglück ein, freilich in der festen, aber dennoch irrtümlichen Überzeugung, dass wenn sich nur etwas änderte, die Tür zum Glück sich öffnen würde. Aber auch diese Überzeugung ist Verzweiflung und Krankheit.

Die Verzweiflung des Ewig-Ruhelosen betrachtend wäre freilich Charles Baudelaire als vielleicht scharfsichtigster Gesinnungsbruder Kierkegaards zu benennen:

"ANYWHERE OUT OF THE WORLD. GANZ GLEICH, WO, NUR NICHT IN DIESER WELT. Dieses Leben ist ein Krankenhaus, in dem jeder Patient von dem Wunsch beseelt ist, sich in ein anderes Bett zu legen. Der eine möchte lieber vor dem Ofen leiden, und der andere glaubt, er werde am Fenster genesen. Ich habe stets das Gefühl, es würde mir überall dort gutgehen, wo ich mich gerade nicht aufhalte, und wegen der Umzugsfrage liege ich unentwegt im Disput mit meiner Seele."

Auch Baudelaire einer von denen (übrigens vielen), die den Menschen für unheilbar krank halten. Und nun, nachdem wir der Bibel, den Dichtern und Denkern, der Geschichte und dem 'ununterbrochen dienstuenden Erschießungskommando des XX. Jahrhunderts' (Imre Kertész) noch immer keinen Glauben schenken - nun die Natur und die Pandemie und ihr Zuruf? Hilft also, wie Kierkegaard meint, jetzt auf diese Weise "das Dasein mit Schrecken nach"?

Donnerstag, den 27. Januar 2022

Noch Tage nach unserem wochenendlichen Ausflug auf die Höhen des Breitenbergs bei Bad Peterstal stehen mir vor Augen die schneeverhangenen Landschaften, das Schweigen der Bäume, die Nebelschwaden, die in Schlangenlinien zwischen das Gehölz hindurchglitten, um dann wie Licht-Rauch nach oben zu steigen zu den Wipfeln, sich dort schließlich verlierend. Auf der abendlichen Hinfahrt waren wir auf den Schwarzwälder Sträßlein oft lange allein unterwegs gewesen. Auch in den Dörfern niemand zu sehen, als wären die Menschen von den Häusern verschluckt worden. Der Eindruck, auf einmal Teil eines innigen Stillebens zu sein, verflüchtigte sich auch während unseres Aufenthalts nicht. Wenn er, versunken im Gespräch mit den Freunden, schwächer zu werden drohte, genügte schon der kleinste Blick aus dem Fenster, um ihm wieder zur alten Stärke zu verhelfen. Die Winterzeit dieser Region muss wohl als ein Landschafts-Kloster verstanden werden, dessen Tor in den kalten Monaten weit geöffnet ist und einlädt zum Wandeln im Kreuzgang der Bäume, zu Stille und Einkehr ruft, zu Andacht und Meditation und Bibellese. Im wahrsten Sinne des Wortes also ein ‚Still-Leben‘... Dies freilich nicht im Sinne bloßer Lautlosigkeit. Im Gegenteil: Genauso wie ein Kloster könnte man die Landschaft als ein völlig unaufgeregtes Musikstück vernehmen, vielleicht geschrieben von Arvo Pärt oder Philipp Glass. Mit ständig wiederkehrenden, minimal variierten Sequenzen, einem auf- und abschwellenden Atem gleich.

Man hat den Schwarzwälder Gemeinden immer einen, innerer Verschlossenheit entspringenden, gerade auch religiösen, Eigensinn nachgesagt, einen Hang zu einer spirituellen Schwermut, die indessen – man muss unwillkürlich an Jüngers Figur des Waldgängers denken - jederzeit in eine Widerständigkeit umschlagen kann. Die landeskirchlichen Regimente haben sich stets schwer getan mit ihnen: Ihnen galten sie als wildes Gewässer, welches sich kaum den geordneten Bahnen eines ruhig dahinfließenden kanalisierten konfessionellen Stroms zuführen lässt.

Auf der Rückfahrt kamen uns, fast Stoßstange an Stoßstange, die Ausflügler entgegen, die glaubten, den Tag um das zweifellos beeindruckendere Schauspiel, Großgemälde, die prachtvolle Oper des Sees verbringen zu müssen. Das Schwäbische Meer: schließlich einer der Orte, die man – so einer der geläufigen Titel der Tourismus-Industrie – „im Leben gesehen haben muss“.

Ob einer von ihnen auch Augen und Ohren für die minimal music der verschneiten Schwarzwaldhöhen gehabt, ihnen vielleicht sogar den Vorzug gegeben hätte?

Sonntag, den 16. Januar 2022

Predigt über einen Abschnitt aus dem 1. Korintherbrief, der in den ersten Kapiteln so tief sich versenkt ins Geheimnis Gottes, seinem Erscheinen 'sub contrario' (unter dem Gegenteil), der Hoheit des Niedrigen, der Weisheit der Torheit und der Lächerlichkeit der Weisheit der Welt.

Und neben der Bibel vor Augen - auch ich bin schließlich gutversorgt im kirchlichen Amt -  jener Spott, den Sören Kierkegaard  den wohlbestallten Pfarrern der dänischen Amtskirche angedeihen ließ: „In dem prachtvollen Dom erscheint der hochwohlgeborene, hochwürdige Geheime General-Ober-Hof-Prediger, der erwählte Liebling der vornehmen Welt, er tritt vor einen auserwählten Kreis von Auserwählten und predigt gerührt über den von ihm selbst ausgewählten Text: ‚Gott hat das in der Welt Geringe und Verachtete auserwählt‘ – und niemand lacht.“

Angesichts solchen Spottes kann man geradezu dankbar sein, wenn der Sonntagsgottesdienst gemeinhin nicht mehr der Ort ist, an dem die Elite eines Ortes zusammenkommt. Sondern umgekehrt heutzutage ein Kirchgänger damit rechnen muss, von anderen gefragt zu werden, weshalb er regelmäßig bei einer solch kuriosen Veranstaltung zugegen ist. 

Dazu passt trefflich ein Aphorismus des Philosophen Friedhelm Schneider, über den ich in vergangenen Tagen gestolpert bin: 

"Ironie des Allmächtigen: Er schickt den Hinkenden in seinen Farben zum Wettlauf und den, der stottert, zu seiner Verteidigung auf den Markt. Er gestattet nur der Blasphemie die Annäherung und bevorzugt das Gespräch mit Querulanten. Er überrascht. Er ist etwas für Kinder."

Dies alles bedenkend, könnte man durchaus zu der Überzeugung kommen, dass Gott kräftig dabei ist, nach vielen Jahrhunderten kirchlicher Tänze um die goldenen Kälber Macht und Ansehen endlich die Dinge in seinem Sinne zu ordnen. 

 

Donnerstag, den 13. Januar 2021

Eigentlich müsste ein neues Jahr einer Quelle gleich entspringen: Ein plötzliches Ans-Licht-Treten eines Tages-Spring-Brünnleins, von dem man angesichts der  Wassermenge zwar kaum vermuten würde, dass daraus einmal ein in ausladendem Bett mächtig dahinströmender Fluss wird. Aber doch von einer frischen, ungezügelten Lebendigkeit zeugt und sprudelnd freudig-wild dem Licht sich zeigt. Stattdessen erinnert die Gleichförmigkeit dieser Tage eher an die Müdigkeit, mit der ein Fluss, mitunter fast stockend, seinem Mündungsdelta sich nähert.

Auch die Aufgeregtheiten der gegenwärtigen Zeit haben inzwischen einen Gipfelpunkt erreicht, der einen Umschlag in die Müdigkeit nach sich zieht. Die kafkaeske Endlosscheife: Gespräche, die zu keinem Ziel führen. Die mittlerweile entleerte Wiederholung der Ereignisse. Themen und Fragen, die nach erfolgter Bearbeitung erneut auf dem Tisch liegen. Der auf den Berg gewälzte Stein rollt erneut zurück ins Tal.

Dies würde Tagebuchaufzeichnungen nahelegen, die einem Nachdenken, einem Räsonieren sich hingeben, welches nicht bereit ist, den banalen Zufälligkeiten der Stunden und Tage Raum zuzugestehen. Ob es regnet, schneit, die Sonne scheint, ob es November ist oder man sich im Frühjahr befindet, wem man begegnet ist und welche Gespräche man geführt hat, ja sogar ob schicksalhaft Krieg oder Frieden über uns schweben: das alles könnte allenfalls Thema einer Randbemerkung sein. Weil alles, was der Zeit angehört, es mag das größte Ereignis oder das kleinste sein, letztlich dem Verdikt des alttestamentlichen Skeptikers unterliegt: „Nichts Neues unter der Sonne.“ Der letztlich immer gleich sich dahinziehende Strom der Zeit, den der Tagebuchschreiber wohl neben sich weiß. In den er sich gleichwohl nie hineinbegibt. Das Tagebuch stünde in diesem Fall im Dienst des vielleicht paradoxen Unterfangens, im täglichen Niederschrieb der Herrschaft der Zeit sich zu entziehen, sich – diese Formulierung hätte Ernst Jünger gewählt – dem Zeitlosen hinzugeben. Entsprechend hätten diese Notizen die Tendenz, austauschbar zu sein: Das Datum, unter das sie gestellt wären, hätte eigentlich nichts zu besagen. Das am 2. Mai eines Jahres Niedergeschriebene könnte genauso unter dem Datum des 15. Oktobers erscheinen.

Aber muss es nicht doch die Aufgabe des Tagebuchs (darauf verweist ja schon die Bezeichnung!) sein, sich gerade seiner Zeit zu widmen? Also in den Notizen die besonderen Gesichtszüge der Tage nachzuzeichnen, genau kleine und große Ereignisse zu vermerken, die Stimmen und Stimmungen einzufangen? Entweder bewegt und Anteil nehmend oder sine ira et studio zu beschreiben die Irrungen und Wirrungen? Insgeheim also den Versuch zu wagen, jedem einzelnen Tag seine einzigartige Besonderheit zu entlocken? Nach dem Kleinod der Einmaligkeit zu greifen und Ausschau zu halten nach der Königin der Singularität, dem Kelch der Orchidee, der nur für wenige Stunden sich öffnet, dem Kleid, das nur an diesem einen Tag lang getragen wird?

In diesem Zusammenhang hilft vielleicht weiter, sich der Büchnerpreis-Rede Paul Celans zu erinnern. Dort hatte der Dichter vermerkt, es sei wohl das Neue an den heutigen Gedichten, die heute geschrieben werden, dass man hier versuche, der Daten eingedenk zu bleiben: „Vielleicht darf man sagen, daß jedem Gedicht sein ‚20. Jänner‘ eingeschrieben bleibt? ... Aber schreiben wir uns nicht alle von solchen Daten her? Und welchen Daten schreiben wir uns zu?“

Vielleicht sind es diese letzten beiden Fragen, die den Gegensatz der genannten Tagebuch-Typen hinter sich lassen. Denn diese beiden Fragen sich vor Augen stellend, bliebe man an die Zeit verwiesen, ohne indessen sich von ihr gefangen nehmen zu lassen. So dass sie untergründig in jeder Tagebuch-Notiz gestellt und bewegt werden müssten: Von welchen Daten schreiben wir uns her? Und welchen Daten schreiben wir uns zu? In der Tat Fragen, welche die Spreu vom Weizen trennen.

Freitag, den 7. Januar 2022

Tage, die verkohlten Baumstümpfen gleich aus der Zeit ragen. Man wandert durch sie hindurch, als fände man sich unversehens wieder auf schmerzzerfurchten Feldern, die sich nach einer irgendeiner Schlacht blutgetränkt und verheert endlich stummgeschrien haben und nur noch, regungslos gefangen im Spinnennetz des Sinnlosen, mit stierem Blick ins Leere starren können. Selbst der Schnee, so sanft und fein er auch herabfällt, vermag nicht, die nackte, aufgerissene Erde mit seinem zarten Leichentuch tröstend zu bedecken.

Einen ähnlichen Blick hat beim Betrachten eines Fotos Péter Nádas getan in seinen Erinnerungen. Nur ihn noch in eine Grundsätzlichkeit gehoben: "Die Stümpfe der gesprengten Brücken ragen aus der Donau heraus. So ist mein Leben Ich sehe sie als gestutzte Flügel eines zerzausten Vogels, die kaputten Brücken auf dem damals entstandenen Foto, wobei ich damals weder an Vögel noch an gestutzte Vögel dachte. Ich dachte nicht an Vernichtung, sie war unmissverständliche Form der Existenz." 

Vielleicht muss man aber - zuletzt habe ich doch dafür geworben, die zurückliegenden Festtage nicht als etwas Beiläufiges zu betrachten, sondern in ihnen die geheime Mitte im Rad der Zeit zu erblicken - noch tiefer gehen, noch grundsätzlicher reden: Wäre es möglich, dass alles menschliche Erleben und Erinnern letztlich nicht über den Status hinauskommt, Kommentar, Randbemerkung zu sein zur göttlichen Heilsgeschichte, zur Divina Comedia? Diese verkohlten Baumstümpfe der Zeit also lediglich ein Kommentar zur Liedzeile "Er liegt dort elend, nackt und bloß..."?

Mittwoch, den 5. Januar 2022

Die Tage nach dem Eintritt ins neue Jahr gleichen dem Fallen des Vorhangs am Ende eines Theaterstücks: Die profanen Leuchter gehen wieder an und werfen ihr kaltes Licht, das nichts anderes will, als dass wir uns ernüchtert die Augen reiben, von den Sitzen erheben und zügig dem Ausgang zueilen. Der Alltag tritt wieder seine Herrschaft an und legt das Geheimnisvolle, das den Weg von Weihnachten bis zum Rosch ha-Schana säumt,  mit betont sachlicher Gestik zu den Akten. Und damit alles, was dem gleichgültigen  Dahinströmen der Zeit eine Mitte, einen Atem, einen Herzschlag geben könnte. 

Jetzt beginnt der eigentliche Kampf: Um das, was das jetzige Grau-in-Grau der Zeit als harmloses, letztlich belangloses kleines Zwischenspiel dem metaphysischen Sinn, dem Geschmack fürs Unendliche gnädig zugestanden hat, nicht einfach vergangen sein zu lassen. Das festliche Gewebe aus Licht, Dunkelheit und Zeit am Jahresende darf eben nicht als frommes Rührstück begriffen werden, dem man sich nur zeitlich begrenzt hingeben darf, um sich danach um so nüchterner der glanzlosen Wirklichkeit zuzuwenden. Es ist genau anders herum: Nachdem wir endlich einmal für wenige Momente an den innersten Sinn des Daseins gerührt haben, hebt sich nun wieder der Vorhang für das Schauspiel jenes alltäglichen Lebens-Theaters, das wir mitnichten für die eigentliche Realität halten dürfen: 

"Das ist ein Lichtspan im Schein der Ewigkeit, unsichtbare Häutchen haben wir beleckt, sie fast geliebt, da ist bloß Winter in den starren Zweigen, und alle Zeichen sind leer. ... Doch eine Freude blebt: Wir glühen in unverständlichen Worten." (Antonio Gamoneda)

1. Januar 2022

Eine seltsame Silvesternacht liegt hinter uns. Während es insgesamt recht ruhig blieb, wurde vereinzelt im Ort, als wollte man mit aller Gewalt zur Normalität zurückkehren, ein reichhaltiges Feuerwerk entzündet. Erinnerungen an den letzten Altjahrabend werden wach: Damals war es gänzlich still geblieben. Dafür lag mehr Hoffnung in der Luft: Man ging davon aus, dass über die sich abzeichnende Möglichkeit, sich impfen zu lassen, die Pandemie zu einem Ende gebracht werden würde. Diese Hoffnung hat sich mittlerweile abgenutzt. Stattdessen macht sich - gerade auch in den abendlichen Gesprächen - das Gefühl breit, dass sich etwas in Gang gesetzt hat, was nicht mehr aufzuhalten sein wird. Eine unsichtbare Lawine, welche die geistigen Berghänge hinabrollt. Man weiß noch nicht, was sie alles unter sich begraben wird. Aber ahnt, dass Fundamente  betroffen sein werden: Wir werden nicht einfach davonkommen...

Untrügliches Kennzeichen für diese geistige Lage: Die Skepsis, die man den bisherigen Garanten des gesellschaftlichen Zusammenhalts entgegenbringt. Man glaubt ihnen nicht mehr. Der Kredit ist  aufgebraucht, ohne dass sich wirklich benennen ließe, weshalb. (Die Grenzen des im Rahmen des menschlich-allzumenschlichen Erträglichen sind doch eigentlich nicht entscheidend mehr strapaziert worden als in den Jahrzehnten zuvor?) Das bedeutet nicht, dass man sich damit zu einem Agnostizismus bekennen würde. Im Gegenteil: Um so mehr glaubt man anderen windigen Gestalten und Meinungen. Und hier ist man sogar unter günstigsten Kreditbedingungen bereit zu glauben: Es reicht, dass in Verlautbarungen dem sogenannten Establishment die gleiche Skepsis entgegen gebracht wird, wie man sie selbst hegt. Gerne stimmt man dann gemeinsam das Credo der Absurditäten an. 

Ins Tagebuch notiert Sören Kierkegaard am 31. Dezember 1838: "Der Herr kommt, wenn wir auch seiner harren müssen, er kommt, wenn wir auch alt wie Anna, grau wie Simeon (dieser zweite Noah) würden." 

In meinen Notizen habe ich ein halbes Jahr schweigend innegehalten. Im neuen Jahr will ich versuchen, dem Harren auf Gott wieder schreibend Ausdruck zu verleihen. Ich werde allerdings - wenn Kierkegaard recht hat - damit rechnen müssen, darüber alt und grau zu werden. 

Freitag, den 18. Juni 2021

Das Missliche, nein Tragische an allen Diskussionen, die sich - wie lange schon? - um die Feier  des Abendmahls ranken wie schmarotzende Misteln, die sich frech ins Geäst der Bäume setzen, um deren Kronen schließlich zu überwuchern: dass diejenigen, die sich zum Hüter des Heiligen Mahles berufen sehen, sich insgeheim zu dessen Herrn aufspielen. Diese Tragik betrifft keinesfalls nur die kirchlichen Instititionen samt deren kleinen und großen Ablegern. Sondern auch die Theologie. Der Kniefall vor dem Heiligen, der sich unversehens wandelt und zu einem Sich-Setzen auf dem Thron wird. Ein Kennzeichen dieses verborgenen Wandels mag sein, dass Äußerlichkeiten zum beherrschenden Thema werden, ungeahntes, ja entscheidendes Gewicht bekommen. Georg Steiner hat dies als die Herrschaft des Sekundären bezeichnet. 

Auf dem First des Chordaches hat sich endlich wieder einmal eine Amsel eingefunden. Sehnsüchtig warte ich darauf, das sie zum abendlichen Gesang anhebt. Aber sie putzt nur mehrfach die Federn, um dann, ohne einen Gesangston zu verlieren, sich zu entfernen. Hat sie sich nun auch der Herrschaft des Sekundären gebeugt?

Samstag, den 22. Mai 2021

In Gedanken über den morgigen Predigttext Gen 11... und über jenen Begriff, der sowohl zum Passwort geworden ist, mit dem man eintritt ins Innere des babylonischen Turms, als auch innerhalb der babylonischen Welt - Ernst Jünger hätte von der titanischen gesprochen -  Auszeichnung erfährt und Orden verliehen bekommt: Kreativität. 

Einst war der Begriff ‚Creator‘ einzig und allein Gott vorbehalten. (Wie auch keiner je gewagt hätte, dem Menschen die Attribute der ‚Allmacht‘ oder der ‚Allwissenheit‘ zuzusprechen: In Entsprechung zum hebräischen Wort 'bara', welches im Alten Testament ausschließlich das göttliche Schaffen bezeichnet.)

Mittlerweile ist er in den (Allein-?)Besitz des Menschen übergegangen. Und hat hier darüber hinaus eine allumfassende Demokratisierung erfahren: War es anfangs ausschließlich dem Künstler erlaubt ‚kreativ‘ sein und einzugehen das Wagnis, in den dem Menschen gesetzten Grenzen das Schaffen Gottes nachzuahmen, so ist heute schon der kleinste Tüftler, jeder Organisator, jeder, der dem bunten Mosaik der Weltgestaltung ein winziges Ideensteinchen zufügt, schon ‚kreativ‘ und erfährt dementsprechende Bewunderung.

Ich gestehe, dass ich mir die Segnungen der Technik durchaus gefallen lasse. Auch kann ich gelungener Ingenieurskunst hohe Anerkennung zollen. Allerdings fühlte ich mich selten bemüßigt, menschliche Artefakte zu bestaunen und zu bewundern. Und nie diejenigen, mit denen man ‚etwas machen und bewirken kann‘. Mir fehlt auch bis heute das Verständnis dafür, dass ausgerechnet die Kinder, die auf ihren ersten Spaziergängen noch jedes Steinchen staunend umdrehen, nur wenig später die Welt des Digitalen der Schönheit der Natur vorziehen. Und sich lieber verkriechen hinter viereckigen Bildschirmen, anstatt die Wälder zu erkunden.

Selbst ein so technischer Denker wie Immanuel Kant war indessen noch ganz im alten Staunen über die unvergleichliche Schönheit der Natur beheimatet, als er seiner Überzeugung Ausdruck verlieh, dass es nie den ‚Newton eines Grashalmes‘ geben könne.

Wer sich der Frage stellt, wie es zu einem solchen Wandel kommen konnte, muss das Fundament des babylonischen Turms in Augenschein nehmen. Und kommt unausweichlich zur Einsicht Friedhelm Schneiders: „Jeder möchte kreativ sein, niemand Kreatur...  Wer jedoch tun will, was Gott tut, aber nicht sein will, was Gott mit ihm gemacht hat, der verfällt nur den Banalitäten der Eitelkeit.“

Aber auch damit die Erkundung des Fundaments noch nicht abgeschlossen: Warum möchte jeder kreativ sein, aber nicht Kreatur?

Gen 11 umkreist dieses Phänomen mit dem Zwang, "sich einen Namen machen" zu müssen. Verbirgt sich dahinter der Wunsch, "zu sein wie Gott"? Oder doch nur die entsetzliche Angst vor dem Namenlosen?

Donnerstag, den 20. Mai 2021

Ein Blitz, der die Nacht der religiösen Grundbefindlichkeit in der westlichen Welt drei Sätze lang ausleuchtet:

"Gott kostet nichts. Was aber nicht gekauft werden kann, das kann auch nicht besessen werden; und was nicht besessen werden kann, das will auch niemand haben." (Friedhelm Schneider)

Aus dieser Einsicht heraus werden freilich auch verständlich die vielfältigen Bestrebungen innerhalb der Kirchen, Gott wenigstens als eine Art Europäische Zentralbank zu etablieren: als Werte-Währungshüter. Um allem, was man kaufen und besitzen kann, das Signum einzuprägen, das auch den Dollar ziert: 'In God we trust'.

Bemühungen indessen, die mit Recht kritisch beäugt werden. Jede solcher Funktionalisierungen Gottes führt nicht dazu, dass er zu etwas wird, was einen Wert hat. Vielmehr führt sie - Gott ist schließlich um etwas anderen willen da, das höher ist als er - zu einer Minderung seiner Würde. "Gott kostet nichts." Was ihn gleichzeitig im wahrsten Sinne des Wortes unbezahlbar macht. Eine Einsicht also, die Gottes Würde Ehrerbietung weist, sich vor seiner Hoheit beugt. Jeder 'Wert-Verlust' Gottes kann also im Grunde nur begrüßt werden!

Dienstag, den 18. Mai 2021

„April is the cruelest month, breeding / Lilacs out of the dead land, mixing / Memory and desire, stirring / Dull roots with spring rain.”

April ist der grausamste Monat, er treibt / Flieder aus toter Erde, er mischt / Erinnern und Begehren, er weckt / Dumpfe Wurzeln mit Lenzregen.“

(T.S. Eliot, Das wüste Land. Übersetzung von E. R. Curtius)

 

Seit Mitte März haben wir nun April. Das Empfinden, als wäre die Zeit stehengeblieben. Als weigere sich der Frühling voranzuschreiten. Nur ganz zögerlich setzt er Schritt um Schritt. Als plagten ihn geheime Zweifel, eigenartige Ängste.. Oder verbietet er sich, die bedrückte Menschheit vor Augen, den üblichen jahreszeitlichen Jubelschrei? Einem fröhlich daherhüpfenden Kind gleich, das plötzlich verstummt und erschrocken in seinem Spiel innehält und mit großen Augen die weinenden Frauen und Männer betrachtet, wenn es unversehens auf eine Trauergesellschaft stößt?

Hätte sich nicht trotz Regen und Kälte das Blattwerk der Bäume still und heimlich entfaltet und die Kamelie vor der Haustür zu blühen bequemt, hätte sich nicht etwas Fliederduft in die Wiege des frostigen Windes gelegt: man wäre tatsächlich versucht, vielleicht nicht an den ewigen Winter, aber doch an den ewigen Nicht-Frühling zu glauben…

Das Schweigen des Frühlings… Aber vielleicht ist es gänzlich falsch, nur die Perspektive des Vermissenden einzunehmen. Gewiss, dies wäre vollkommen verständlich. Schließlich hat die Pandemie – ach, wir sind nur noch dabei, irgendetwas zu vermissen – uns genau in diese Rolle hineingezwungen. Möglicherweise erweisen wir uns angesichts des Schweigens des Frühlings schlicht als Sklaven der Corona-Perspektiven. So dass ein anderer, Max Picard, an dieser Stelle weiter, tiefer sieht: „Es ist, als sei die Zeit gesät worden ins Schweigen, als ginge sie in ihm auf, das Schweigen ist wie der Boden, in dem die Zeit voll wird.“

Freitag, den 16. April 2021

Was ich beim letzten Gespräch mit ihr geahnt habe, ist eingetreten: Heute nehme ich die Nachricht vom Tod der alten Dame in Empfang.

„Um leichtes Leben habe ich Gott gebeten, um leichten Tod hätte ich bitten sollen.“ An dieses Wort Ossip Mandelstams hatte mich das letzte Telefonat mit ihr erinnert. Der Bruder weiß indessen zu berichten, dass ihr dies – ob sie nun darum gebeten hat oder nicht – zuteil geworden ist. Ich bin Gott unendlich dankbar dafür...

Der Bruder weiß weiter zu erzählen von Notizen einer Rede, die er in ihren Papieren gefunden hat. Mit der hatte sie sich als junge Lehrerin von ihren Schülerinnen verabschiedet, um an eine Missionsschule in Hongkong zu gehen: Sie bitte darum, ihr alle Unzulänglichkeiten zu verzeihen. Und man dürfe sie ruhig vergessen. Wenn man nur den in Erinnerung behalte, auf den sie doch immer hinweisen wollte: Christus.

Schon damals war die junge Frau – zumindest in dieser Hinsicht – ganz jene alte Dame, als die ich sie kennengelernt habe. Sie gehörte nie jener Welt an, die voller ‚Herr und Frau Wichtig‘ ist. Und in der Tiefe angeeignete und eben nicht äußerlich aufgesetzte Demut hatte zudem immer dafür gesorgt, dass die Scharfsichtigkeit, mit der sie die Dinge betrachten konnte (ja, die alte Dame durchschaute so manches!), sich nicht in jenen Richtgeist verwandelte, mit dem man sich ebenso frech wie verblendet auf den Thron Gottes setzt. Ihre Bescheidenheit hat gewiss auch dafür gesorgt, dass ich erst jetzt, Wochen nach ihrem Tod, von ihrem Heimgang erfahre. Sie wollte keine besonderen Ansprüche erheben. Sondern – wie jedes andere einfache Gemeindeglied – vom Ortsgeistlichen bestattet werden.

Die alte Dame und ich haben manches Streitgespräch in geschwisterlichstem Geiste geführt. Einig waren wir uns in der gemeinsamen Hoffnung, die im selbstverfassten Grabspruch Kierkegaards so wunderbar gotteskindlich aufleuchtet: »Noch eine kleine Zeit, dann ist´s gewonnen, dann ist der ganze Streit in nichts zerronnen. Dann darf ich laben mich an Lebensbächen und ewig, ewiglich mit Jesus sprechen.«

Aus der Ferne lege ich ihr diese Spruch-Rose aufs frische Grab.

Dienstag, den 23. März 2021

Ich nehme wahr, dass ich langsam jene Zeitzone betrete, in der die älteren geistigen Leitsterne – vor langer Zeit haben sie einmal deinen Weg gekreuzt und sind dann über Jahrzehnte deine Begleiter geworden – einen verlassen…

Im Februar ist Philippe Jaccottet verstorben. Er gehörte zu den Dichtern, die ich, nachdem man mich einmal auf sie aufmerksam gemacht hatte und ich von ihnen innerlich entzündet worden war, im Blick behielt, damit mir ja nicht das Erscheinen eines neuen Bandes mit Gedichten oder Betrachtungen entging. 

Philippe Jaccottet war ein großer – er selbst hätte dieses Attribut nie für sich in Anspruch genommen - Lehrmeister des stillen Blicks, einer Poesie, die vor allem eines nicht wollte: den Dingen mit Worten Gewalt antun. Er näherte sich ihnen darum immer mit geradezu ehrfürchtiger Scheu, gleichwohl mit höchster Aufmerksamkeit. Letztere galt insbesondere dem, was der übliche Zeitgeist, nur der eigenen Blickrichtung und der eingeübten Logik folgend, für unbedeutend hielt.

So wohnt er in Grignan einer Beerdigungszeremonie bei. Ein Satz der Liturgie trifft ihn unversehens: „Chorus angelorum te suscipiat, et cum Lazaro quondam paupere aeternam habeas requiem.“ (Der Chor der Engel möge dich empfangen und mit Lazarus, dem einst armen, mögest du ewige Ruhe haben) Wer Lazarus sei, wissen wir oder könnten wir wissen, wenn wir die Augen aufmachen, wir entdecken ihn immer, auch unter den Armen heute. Aber haben wir noch eine Vorstellung von den Engeln, die uns einmal empfangen werden?“

Jaccottet hat uns nun nicht nur die Vorstellung davon voraus.

Freitag, den 19. März 2021

„Alle Dichter lügen.“ Etliche haben Platons Dichter-Schelte ganz im Schatten dieses grundsätzlichen, vielleicht auf den athenischen Staatsmann Solon zurückgehenden, Verdikts gesehen. Um anschließend aber feinsinnig zu bemerken, dass ja nicht nur Platons Dialoge von höchster poetischer Güte sind. Sondern der Philosoph überhaupt vielfältig auf Mythen zurückgreift, ja er sogar als Erfinder neuer Mythen und Erzählungen gelten kann…

Sprich: Was Nietzsche seinem ‚Zarathustra‘ in den Mund legt, kann mit Fug und Recht auch von Platon behauptet werden: „Doch was sagte dir einst Zarathustra? Daß die Dichter zu viel lügen? – Aber auch Zarathustra ist ein Dichter.“

Vielleicht reicht es also für die Beurteilung von Erzählungen nicht, die Differenz von Wahrheit und Lüge zu bedenken. Wenn man sich - siehe den letzten Tagebucheintrag - auf die Horizonterweiterung von Stasiuk und Blumenberg einlässt, wäre in der Tat eine andere Frage viel entscheidender: ob eine Erzählung sich als ein Gefängnis erweist oder nicht. Und ob sie uns daraus entkommen lässt oder nicht.

Mit anderen Worten: Im Blick auf die Beurteilung von Erzählungen muss deren evangelische Qualität entscheidend sein! Im Sinne jener theologischen Zuspitzung des johanneischen Christus, dergemäß als Wahrheit und erst recht als göttliche nur dies in Frage kommen kann, was den Menschen in die Freiheit führt: "...und die Wahrheit wird euch frei machen." (Joh 8,32)

Donnerstag, den 18. März 2021

„Vor vielen Jahren hatte ich die Gelegenheit, eine gewisse Zeit im Gefängnis zu verbringen. Es war meine persönliche Entscheidung, und ich mache in dieser Hinsicht niemandem einen Vorwurf. Die größte Folter in der Gefangenschaft ist die Unmenge Zeit, die man dir nimmt – du hast sie einfach nicht mehr. Es ist, als hätte man dir dein Leben gestohlen, als wärst du zur Hälfte und schmerzlos getötet worden. Du lebst wie ein Zombie und zählst zwanghaft Minuten und Tage, die nach Staub schmecken und wie ein Stein auf dir lasten. Doch Gefangene sind klug. Die Gefangenen, meine Kumpel, kamen ins Erzählen. Sie redeten ohne Punkt und Komma. Sie erzählten von ihrem Leben, von fremden Abenteuern und von den Filmen, die sie gesehen hatten. Mit stillschweigender Einwilligung der Wächter gingen die Fähigsten von ihnen nachts von Zelle zu Zelle, um bis zum Morgengrauen ihre Geschichten zu spinnen. Wir bezahlten sie mit Zigaretten, doch ihre Geschichten waren Gold wert. Sie vernichteten die modernde, faulende Zeitmaterie, in der man uns gefangen hielt. Es war magisch. Für diese wenigen Nachtstunden zogen Gauner, Räuber und Mörder aus ihrem wirklichen Leben aus, sie kündigten ihr Schicksal auf. Vielleicht verließen sie sogar ihre tätowierten Körper und folgten dem Strom der Erzählung als reine Seelen. Sie erhielten ein neues Leben, das bis zur Dämmerung anhielt –bis um sechs in den steinernen Fluren die elektrischen Glocken läuteten. Weder vorher noch nachher habe ich erlebt, dass eine Erzählung an einem finsteren Ort so hell leuchten kann. Kurz nachdem ich das Gefängnis verlassen hatte, schrieb ich mein erstes Buch.“

Das Autonomie-Pathos des polnischen Autors Andrzej Stasiuk nehme ich gerne als eine seiner Eigenheiten hin, (welche er übrigens – aber sind es dann noch wirklich Eigenheiten? – mit den meisten seiner im Schatten der 60er aufgewachsenen Generation teilt), indessen aber nicht wirklich ernst: Den Gang hinter Gitter wird auch er nicht, wie behauptet, aus eigener Entscheidung heraus angetreten haben. Vielmehr wird dieser, und ohne ihn um Einverständnis zu bitten, über ihn verfügt worden sein. (Dass man solche ‚Verfügungen‘ umdeutet und zum Ausfluss des eigenen Willens erklärt, ist durchaus verständlich: sind sie doch der erklärte Feind jener hochverehrten und darum mit allen Mitteln – auch mit dem Instrument der Umdeutung - zu verteidigenden Autonomie. Indem sie die Verfügung als Folge der eigenen Entscheidung deklariert, entgeht die Autonomie der Schmach der Niederlage.)

Unbedingt ernst zu nehmen ist allerdings Stasiuks Hinweis auf die Macht der Erzählung: Sie ist es, die es vermag, Licht ins Dunkel zu bringen, die Türen des Gefängnisses zu öffnen und die ‚Mauern von Hebron‘ (so der Titel der abgründigen Erinnerungen Stasiuks an seine Gefängniszeit) zu sprengen.

Philosophisch gewendet: Hier leuchtet auf jene freisetzende Wirkmacht der Erzählung, über die nach Hans Blumenberg einstmals die ‚Wächter der Höhle‘ verfügten und mit der sie den steinzeitlichen Jägern, welche sich anschickten, den bergenden Schutzraum der Höhle zu verlassen, um sich in die scheinbar übermächtige, feindliche Außenwelt zu wagen, die Angst nahmen.

Was die Frage aufwirft nach den Erzählungen, die in unseren Corona-Zeiten Wirkmacht entfalten: Noch immer stehen wir unter der Verfügung der Epidemie. Seit einem Jahr sitzen wir, mit ein wenig erlaubtem Freigang, im Gefängnis des Virus. Und noch immer wissen wir nicht, wieviel Zeit wir noch darin verbringen werden.

Die Erzählungen indessen, die unsere jetzige Gefängniszeit irrsinnig umschwirren, sind eher geeignet, den grundsätzlichen Vorbehalt Platons gegenüber den Dichtern zu erhärten, die – so Platon - nicht fähig seien, (wie unversehens aktuell!) „Erkenntnis und Unkenntnis und Nachbildung zu sichten“  und deshalb der Lüge und der Verwirrung Vorschub leisten. Die heutigen Geschichten-Erzähler – und noch immer bin ich dabei, Stasiuk ernst zu nehmen – haben nichts mehr mit den ‚Wächtern der Höhle‘ gemein: Ihre Macht befreit nicht, sondern besteht in der Aufrichtung weiterer Angst-Gefängnisse.

Samstag, den 6. März 2021

Schon heute sind wir mit der Frage beschäftigt, wie sich das Leben 'post Corona' gestalten wird. Wer weiß: Vielleicht bringt auch dieser Versuch den inständigen Wunsch zum Ausdruck, die Pandemie möglichst schnell - wenigstens denkerisch! - endlich 'hinter uns zu bringen'?!?

Bezeichnend auch, dass die Denkwege die üblichen soziologischen und psychologischen Richtungen einschlagen. In eine theologische Richtung - ob also das, was uns bereits seit einem Jahr heimsucht, vielleicht ein geheimer metaphysischer Anruf sei (noch bei Rilke  konnte schon die Betrachtung eines Kunstwerks, des archischen Torsos Apollos, einmünden in den Schrei 'Du musst dein Leben ändern') - fragt indessen keiner. 

Das lässt vermuten, dass es der Corona-Zeit ähnlich ergehen wird wie dem zweiten Weltkrieg. Hier hatte Ernst Jünger, obgleich die Zeit nach der Katastrophe ungleich religiöser gestimmt war, schließlich ein Stilllegen der theologischen Frage konstatieren müssen. Denn in dem Maße, in dem es gelingt, ein Unglück - wie groß es auch immer sei - zu bewältigen,  kommt es als Anruf nicht mehr in Betracht, wird es seiner möglichen metaphysischen Dimension entkleidet. So jedenfalls die Diagnose Jüngers:

"Nach dem Zweiten Weltkrieg, in den Wirbeln des Unterganges, bestand für eine kurze Weile Hoffnung, daß großes Licht einfallen würde, Licht aus den fernsten Fernen, Licht aus dem Innersten. Doch bald wurde deutlich, daß das Geschehen als technische Katastrophe begriffen wurde, als Unfall im größten Maßstab und daher als reparabel, als in unsere Macht gestellt. Aber erst mit der Erkenntnis des Irreparablen werden andere Pforten sichtbar, öffnen sich Breschen in der hermetischen Ringmauer.”

Seltsam, der grundlegenden existenziellen Einsicht, auf die doch der Einzelne in seinem Leben regelmäßig gestoßen wird, vor die er sich gestellt sieht, ohne sich ihr letztlich entziehen zu können - die Erkenntnis eines Irreparablen -, ihr verweigert sich die Menschheit hartnäckigst selbst angesichts der furchtbarsten Katastrophe blinder noch als blind...

Mittwoch, den 3. März 2021

Adalbert Stifters Geschichte ‚Bergkristall‘, welche von der wunderbaren Rettung der Kinder Sanna und Konrad aus Gschaid erzählt, die sich am Heiligen Abend nach einem Besuch der Großmutter im anderen Dorf auf dem Heimweg in dichtem Schneetreiben verirren bis in die Fels- und Eisregion des Gebirges hinein. Bei Anbruch der Morgendämmerung jedoch den Weg hinab ins Tal finden, schließlich von einem Suchtrupp gefunden und nach Hause gebracht werden.

Im Schlussabschnitt der Erzählung heißt es – und diese Sätze wird man wohl, wenn die gegenwärtige Pandemie im Wesentlichen ausgestanden und vorüber ist, ähnlich wiederholt finden:

„In dem Wirtshause in Gschaid war es an diesem Abende lebhafter als je. Alle, die nicht in der Kirche gewesen waren, waren jetzt dort, und die andern auch. Jeder erzählte, was er gesehen und gehört, was er getan, was er geraten und was für Begegnisse und Gefahren er erlebt hat. Besonders aber wurde hervorgehoben, wie man alles hätte anders und besser machen können.“

Vielleicht ist dieser Schluss auch als geheime theologische Anleitung zu lesen dahingehend, was wahrscheinlich außerhalb der Kirche zu berichten und zu klären sein wird, aber bitte nicht in ihr. Dort indessen wäre etwas anderes zu erzählen - wenn man denn etwas zu erzählen hat...

Sonntag, den 28. Februar 2021

Trivial die Erkenntnis, dass das Reich des Geistes ein großer Kosmos darstellt, dessen vielgestaltige Landschaft unmöglich auf den sogenannten 'gemeinsamen Nenner' zu bringen ist. Indessen fällt, zumindest wenn man die letzten Jahrhunderte in den Blick nimmt, doch ein seltsames Unisono auf, das kaum zu ignorieren ist: Die Einsicht einer wachsenden, gewissermaßen aus Geschwindigkeit und Lärm sich zusammensetzenden Besinnungslosigkeit: 

Goethe hat sie schon im Phänomen der Eisenbahn heraufziehen sehen. Kierkegaard hat sie im Zeitungswesen, im permanent vom Wind der Aktualität in Bewegung gehaltenen Geraschel des Pressewaldes verortet. Für Botho Strauß ist sie zum Herzschlag der modernen sozialen Medien geworden. Selbst einer, den man nimmermehr mit Botho Strauß in einem Atemzug nennen würde, Jim Morrison - ja, ich meine den verstorbenen Leadsänger der Doors - beklagt in seinem 'American Prayer' die durch die Medienkultur angerichteten geistigen Zerstörungen: "Wo sind die Feste / die uns versprochen wurden / wo ist der Wein / der Junge Wein stirbt an der Rebe… Weißt du, dass wir vom Fernsehen beherrscht werden".

Nun stoße ich heute auf Gilles Deleuze: Auch er stimmt in dieses Unisono ein. Und hat - schon vor Jahrzehnten - bemerkt: "Wir sind durchdrungen von unnützen Worten, von Unmengen dummer Bilder und Worte. Das Problem besteht nicht darin, die Leute zum Reden zu bringen, sondern Ihnen leere Zwischenräume von Einsamkeit und Schweigen zu verschaffen, von denen aus sie endlich etwas zu sagen hätten."

Ich entnehme dem allem, dass es immer wichtiger werden wird, die Seele des Gottesdienstes - könnte es ihn je ohne den vom Tor der Stille eröfneten Augenblick eines einsamen Stehens vor Gottes Antlitz geben? - zu bewahren.

Mittwoch, den 24. Februar 2021

Der Kirchhof dieser Tage: wunderbar lichtdurchflutet und hell und schon Frühling ein- und ausatmend. Wild spielt der Kirchturm mit Sonnenstrahlen und sachtem Wind. Nur die Linde verharrt noch in winterlicher Stille und gesellt so dem Ganzen ein kontemplatives Element hinzu. Als wollte sie darauf verweisen, dass es jetzt noch nicht an der Zeit ist, um laut nach aufbrechendem Grün zu rufen.

Auf einem Bänkchen müssten jetzt Philemon und Baucis sitzen. Wie im zweiten Teil von Goethes Faust-Drama, wo ihre Hütte ebenfalls still neben Kapelle und Linde steht. Diese beiden gastfreundlichen Alten, die aus dem Innersten heraus allen faustischen Prinzipien abhold sind, sich von deren Versprechungen nicht kaufen, vom Willen zur Macht nicht beirren und von den Vor- und Verführungen menschlichen Könnens nicht blenden lassen. Goethe hat sie gleichsam als Hirten des Seins gezeichnet: Mit Ohren für die Schreie jener Opfer, die Fausts Größenwahnsinns-Projekte kosten: „Menschenopfer mussten bluten / Nachts erscholl des Jammers Qual; / Meerab flossen Feuergluten, / Morgen war es ein Kanal.“ Und mit tiefem Sinn für stille Schönheit und Demut: „Laßt uns zur Kapelle treten / Letzten Sonnenblick zu schaun! / Laßt uns läuten, knieen, beten / Und dem alten Gott vertraun!“

Im Grunde ist alles gesagt, wenn Faust den Glockenklang – „Verdammtes Läuten“ – nicht erträgt, die Linde - um von dort aus seine Machenschaften zu betrachten - unbedingt besitzen und zum Hochsitz ausbauen will und das stille Ensemble von Kapelle und Baum beseitigen muss, das doch, ohne jemandem ein Leid zuzufügen, wie Philemon und Baucis in Einfalt und Eintracht bei- und zueinander steht. Faust ahnt indessen, dass er – weil es ihn sowohl an Transzendenz (das ihm unerträglich ihn Übersteigende) und Tod, die Grenzen seines Strebens erinnert, - etwas zerstören muss, wessen er zugleich zutiefst bedarf: Es würde ihn heilen, retten. Aber er, der in der Tat alles kann, untersteht einem geheimen Zwang und kann – faustische Alternativlosigkeit - nicht anders: „So sind wir am härtesten gequält, / Im Reichtum fühlend, was uns fehlt. / Des Glöckchens Klang, der Linden Duft / Umfängt mich wie in Kirch‘ und Gruft.“

Auf diesem Hintergrund muss man vielleicht die in den letzten Jahrzehnten vermehrt auftretenden Beschwerden über das Kirchengeläut anders werten: Nicht, dass ich allen Sonntagsschläfern ein faustisches Streben unterstellen möchte. Dies – würde Faust je den Tag im Bett verschlafen? – wohl eher nicht. Aber vielleicht ist es so, dass auch die Langschläfer doch bitte nicht an Transzendenz (das auch ihren heiligen Schlaf Übersteigende) und Tod erinnert werden möchten…

Montag, den 22. Februar 2021

„»Gott«, nur das Wort, ist nie ganz für mich gestorben. Ich brauch es noch immer, in unerwarteten Momenten, nie in Ergebung, nie im Glauben, von jeder Dankbarkeit abgelöst, zornig, um dieses Zornes willen vorhanden, so mag einer Wespe zumute sein, die siebenhundert Mal gegen die Scheibe stößt und dann von mir – wer ist es das? – in die Freiheit entlassen wird.“

So Elias Canetti ein Jahr vor seinem Tod.

Das Fenster, durch welches Licht flutet und einem immer wieder dagegen anfliegenden Insekt in allem zu versprechen scheint, dass hier doch der Weg ins Offene, ins Freie führe. Aber der Schein trügt und die Scheibe ist in Wahrheit ein ebenso unsichtbares wie unüberwindbares Hindernis, an dem es verzweifelnd sich wundstößt, bis es ermattet niedersinkt.

Gewiss ist der Tod ein solches letztes Niedersinken, auch nach einem Sich-Wund-Stoßen an den großen existenziellen Fragen: Jeder Versuch einer Antwort gleicht ja hier einem Anflug, das an einer undurchlässigen Scheibe endet. Die Frage ist nur – und sie wird von Canetti nicht gestellt (und vielleicht, weil er doch zu zornig ist): Ist der Tod auch der Augenblick, an dem das Fenster – und dies wäre dann wohl doch in einem Passivum divinum zu verstehen – geöffnet wird?

Donnerstag, den 11. Februar 2021

Frau T., jene alte Dame, die über viele Jahre hin jeden meiner theologischen und philosophischen Streifzüge ebenso angeregt wie streitbar begleitet: Diesmal indessen kein Gespräch, das sozusagen mit einem Doppelpunkt endet und bereits eine geheime Brücke schlägt zum nächsten Austausch, sondern mit Hinweis auf ihren Gesundheitszustand mit einem Fragezeichen schließt. Als hätte man gemeinsam noch eine ganze Weile und ohne überhaupt nur an Abreise zu denken in einem alten, noch den Geist der Schönheit atmenden Bahnhofsgebäude zugebracht, hätte sich dort geradezu zeitlos im Gespräch verloren und träte nun hinaus ans Gleis, wo bereits der abfahrbereite Zug wartet und einen daran gemahnt, dass alles seine Zeit hat und es deshalb auch die Zeit des Abschieds gibt. (Ich erinnere noch die Zeiten, als die Dampflokomotive ihren Wartestand eigens durch Krach und heftiges Gezische zum Ausdruck brachte, als wollte sie mit äußerster Ungeduld und mit der geheimen Drohung, im nächsten Augenblick gleich sich in Bewegung zu setzen, die Zugreisenden nötigen, endlich einzusteigen.) Diesmal auch kein Kreisen mehr um Philosopheme und die Frage, wie dieser oder jener Denker zu verstehen oder einzuschätzen sei. Sondern ein entschiedenes Festhalten am neutestamentlichen Zeugnis im tiefen Vertrauen und in der Hoffnung, dass hier Schutz und Bewahrung zu finden sei. Wenn der Boden zu schwanken beginnt, lässt man alles überflüssige Gepäck fallen, um sich mit festem Griff zu klammern an alles, was sicheren, letzten Halt verspricht. Auch Gedanken, selbst die klügsten, sind Gepäck. (Ein entscheidender Unterschied, auf den Kierkegaard im Begriff der Existenz vehement insistierte: „In unserer Zeit glaubt man, das Wissen gebe den Ausschlag, und wenn man nur die Wahrheit zu wissen bekomme, je kürzer und geschwinder, je besser, so sei einem geholfen. Aber Existenz ist etwas ganz anderes als Wissen.“)

Als das letzte, sehr bewusst gewählte Adieu verklingt, setzt eine tiefe Stille ein. Irgendwann steigen aus ihr wie aus einem Brunnen Worte Ossip Mandelstams empor, an die ich, obwohl sie mich beim ersten Lesen tief berührt haben, lange nicht mehr gedacht habe: „Um leichtes Leben habe ich Gott gebeten, um leichten Tod hätte ich bitten sollen.“

Ich weiß, dieses vielleicht letzte Gespräch mit Frau T. wird mich noch lange begleiten. Über die lange Fahrt hinaus, die ich morgen antrete.

Freitag, den 5. Februar 2021

Eigentümliche Bemerkungen des alten Bertolt Brecht, die vordergründig betrachtet der Poesie Gottfried Benns gelten. Diese hat Brecht Zeit seines Lebens als Antipode bekämpft, sie für ähnlich ‚utopisch‘, ähnlich aus der Zeit gefallen gehalten hat wie seinerzeit Rilke die Gestalt Christi: weil dunkel-schwermütig und elitär sich gebend. Weil huldigend in einem längst vergangenen bürgerlichen Geist der Kunst. Weil individualistisch und Trauerkränze flechtend den gesellschaftlichen Fragen der Zeit ausweichend: So jedenfalls nicht mehr hineinpassend in die fortschrittliche Welt des Arbeiters! Die grundlegende Überzeugung Brechts: Gottfried Benns Lyrik ist weit mehr als nur fehl am Platz. Auch für ihn gilt vielmehr das seinerzeit auf Christus gemünzte Votum Rilkes: „Unsere Welt ist nicht nur äußerlich eine andere, – sie hat keinen Zugang für ihn.“

Es muss Brecht erschüttert haben, als er erkennen musste, dass ausgerechnet diese für ihn vollkommen aus der Welt gefallene Poesie Gottfried Benns Wirkungen zeitigte und den Menschen etwas zu schenken vermochte, was sie doch eigentlich nicht geben konnte, weil auch nicht geben durfte:

„Beim Anhören von Versen / Des todessüchtigen Benn / Habe ich auf Arbeitergesichtern / Einen Ausdruck gesehen / Der nicht dem Versbau galt und kostbarer war / Als das Lächeln der Mona Lisa.“

Vordergründig betrachtet gelten diese Bemerkungen der Poesie Gottfried Benns. Geistig-seismographisch betrachtet sind sie vielleicht noch ganz anders zu verstehen: Prophetisch vorausschauend die Verkündigung einer ‚ou-topischen‘ Kirche, die sich nicht nur damit abgefunden hat, dass sie ‚eigentümlich ratlos‘ in ihrer Zeit herumsteht. Sondern genau als den ihr von Christus zugewiesenen Platz begreift: Kein Ort. Nirgends. Aber in der Kraft des Geistes befähigt „auf Arbeitergesichtern einen Ausdruck“ zu zaubern „kostbarer als das Lächeln der Mona Lisa“.

Mittwoch, den 3. Februar 2021

Ich hoffe, der letzte Tagebucheintrag hat dies deutlich genug zum Ausdruck gebracht: Ich bin mitnichten geneigt, in Rilkes ‚Brief eines Arbeiters‘ nur eine bestimmte Überzeugung zu sehen, welcher der Dichter während einer bestimmten Phase seines Lebens anhing. Auch liegt mir fern, in diesen Zeilen lediglich einen biographischen Reflex zu erblicken (etwa ein spätes Aufbegehren gegen den bigotten Katholizismus seiner Mutter). Vielmehr gleichen diese Zeilen den Nadel-Schraffuren eines geistigen Seismographen, welche aufzeichnen die Bewegungen und Erschütterungen im spirituellen Erdinneren. Wobei ich sofort selbstkritisch bemerken muss, dass ich mich mit dieser Verbeugung vor einer technischen Gerätschaft als braves Kind meiner Zeit zu erkennen gebe: Vor Zeiten hätte man nimmermehr zu solchen Vergleichen gegriffen, sondern ohne Umschweif schlicht vom ‚Prophetischen‘ gesprochen…

Montag, den 1. Februar 2021

„Wer, ja, – anders kann ich es jetzt nicht ausdrücken, w e r ist denn dieser Christus, der sich in alles hineinmischt. Der nichts von uns gewußt hat, nicht von unserer Arbeit, nicht von unserer Not, nichts von unserer Freude, so wie wir sie heute leisten, durchmachen und aufbringen… Was will er von uns? Er will uns helfen, heißt es. Ja, aber er stellt sich eigentümlich ratlos an in unserer Nähe.“

Zweifellos hat Rilke in seinem ‚Brief eines Arbeiters‘ seismographisch erfasst, dass dem Fortschritt der Moderne zugleich ein geheimnisvolles Fortschreiten von Christus innewohnt. Allerdings dies nicht dergestalt, dass man sich gegen die Botschaft Jesu wendete, sein Wirken in Frage stellte, ja ihn überhaupt für eine gänzlich zweifelhafte Erscheinung hielte. In einer solchen inhaltlich motivierten Gegnerschaft stellte Christus noch immer eine Option dar, bliebe er ein vielleicht nicht wünschbarer, aber doch möglicher Bestandteil dieser modernen Welt. Aber gerade dies sieht Rilke im Fortschreiten der Moderne zunehmend verunmöglicht: „Mein Gefühl sagt mir, daß er nicht kommen k a n n. Daß es keinen Sinn hätte. Unsere Welt ist nicht nur äußerlich eine andere, – sie hat keinen Zugang für ihn.“

In der Moderne bekommt die Person Christi also im wahrsten Sinne des Wortes ‚utopischen Charakter‘: in jenem Ur-Sinn des griechischen οὐ τόπος: Kein-Ort, Nicht-Ort. Dies wiederum – und darin leuchtet das Geheimnisvolle dieses geistesgeschichtlichen Vorgangs auf - im Grunde die Wiederholung eines der zentralen Motiv der Geburtsgeschichte Jesu (Lk 2,7): „denn sie hatten keinen Raum in der Herberge - οὐκ ἦν αὐτοῖς τόπος“…

Rilkes seismographische Wahrnehmung wäre also nicht nur auszuhalten und zuzugestehen, ja nicht einmal zu bestreiten, sondern mit einer Gegenfrage bis aufs Äußerste zuzuspitzen: Könnte es denn je eine Welt geben, in der Christus einen Platz fände? Eine Welt also, in der Christus nicht in diesem Sinne ‚ou-topisch‘ wäre? War dies vielleicht sogar eines der Grundirrtümer des sogenannten ‚christlichen Abendlandes‘ zu glauben, man könnte ihm, der von Anfang an als ganz und gar ‚utopische‘ Gestalt in diese Welt einging, sozusagen einen Platz anweisen? Dies also das gründlichste Selbstmissverständnis der christlichen Kirche: sich in Bezug auf Christus die Rolle eines Platzanweisers anzumaßen? Und zuletzt: Wenn die Kirche gegenwärtig immer verzweifelter ihren Platz in der modernen Welt sucht und ebenfalls „eigentümlich ratlos“ in ihr herumsteht: Wäre es nicht möglich, dass sie gerade darin – und ohne es zu ahnen – im Begriff ist, endlich, endlich den Weg in die Nachfolge Jesu anzutreten?

Donnerstag, den 28. Januar 2021

Ach, dieses berühmte, vielzitierte Votum Franz Kafkas, das Bücher herbeisehnt, die einem Unglück gleichkommen: „Wir brauchen Bücher, die auf uns wirken wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt, wie der Tod eines, den wir lieber hatten als uns, wie wenn wir in die Wälder verstoßen würden, von allen Menschen weg, ein Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.“

Jetzt haben wir ein Jahr schon das Unglück: Aber wer versteht darin zu lesen?

Es gibt wohl doch einen Unterschied zwischen Büchern und Ereignissen. Zwischen den Büchern, die Menschen, gerade auch Kafkas Axt eingedenk, verfassen. Und dem Buch, an dem, unentzifferbar für uns, Gott schreibt...

Unentzifferbar für uns, weil selbst Gott das vereiste Seelenmeer in uns nicht zu zerschlagen vermag? Corona: ein verzweifeltes Einhacken Gottes, sein Schrei, der Schrei Jesu auch „Begreift ihr denn noch nicht?“ (Mk 8,21) Wir stolzen Menschenkinder sind eitel arme Sünder… 

Ach, wenn es keine Axt gibt, die dieses Eis zerschlagen könnte: Dann möge es doch endlich schmelzen! Sehnsuchtsvers aus einem Gesangbuchlied: „Wo du sprichst, da muß zergehen, was der starre Frost gebaut; denn in deines Geistes Wehen wird es linde, schmilzt und taut. Herr, tu auf des Wortes Tür, ruf die Menschen all zu dir!" 

Dienstag, den 19. Januar 2021

Seit Wochen Friedhofsgang um Friedhofsgang. Auf kaum geräumten Wegen und an verschneiten Gräbern vorbei werden Urnen und Särge getragen und in vereiste Erde versenkt. Mancher aus der Trauergemeinde gibt sich verstört – wer könnte dies nicht nachfühlen - angesichts der Pandemiebedingungen, denen die Zeremonie unterworfen ist: Dass man sich gegenseitig nicht trösten dürfe, nicht zusammenfinden könne zum gemeinsamen – ach, dieses schöne Wort: ich mag kein anderes mehr verwenden – ‚Tränenbrot‘.

Mich verstört indessen, das anscheinend eines der letzten bislang unerschütterten Reste der Religion, die Schutzburg des Vaterunsers, verloren zu gehen droht. Seit ich Pfarrer bin, galt die ungeschriebene Regel: Ob einer der Kirche zugeneigt war oder ihr ablehnend gegenüberstand, egal welchem Glauben oder Unglauben man anhing, gleichgültig welchen Bekenntnissen er nachsprach oder ob er sich - in gänzlicher Paradoxie - als gänzlich bekenntnislos bekannte, so blieb doch das Gebet des HERRN als das über allen Meinungen stehende Unantastbare, unter dem man angesichts des Todes gemeinsam Zuflucht suchte. Nur die vollkommen ihrem atheistischen Trotz sich Hingebenden schwiegen, allerdings nicht, weil sie der Worte nicht mächtig waren. Mittlerweile verraten die ratlosen Augen der nunmehr Verstummten sogar schon die Unkenntnis dieses Gebets aller Gebete…

Donnerstag, den 14. Januar 2021

Auch wenn die medizinisch-technischen Möglichkeiten endlich zu greifen beginnen: Noch immer seit Beginn der Pandemie erleben wir das, was Hans Blumenberg den ‚Absolutismus der Wirklichkeit‘ genannt hat: Ein Ausgeliefertsein an die Willkürherrschaft der Natur, die mit höhnischem Lachen die vergeblichen Versuche des Menschen quittiert, sich ihr zu entziehen, ihr zu entfliehen. Um noch einmal Blumenberg aufnehmen: Wir sind erneut zu einer Art ‚Höhlenbewohner‘ geworden. Und zwar im Sinne einer merkwürdigen Regression, einer Wiederholung der steinzeitlichen Anfänge: Blumenberg hatte die Kulturleistungen des Menschen im übertragenden Sinn als moderne Form der schützenden Höhle begriffen. Wie lange schon sind es nun wieder sinnlich-reale und nicht nur geistige Räumlichkeiten, in die wir uns bergen vor der rauhen Virus-Wirklichkeit: also Häuser, Wohnungen und Zimmer. Und der Weg nach draußen gleicht ebenfalls wieder dem gefährlichen, gleichwohl für das Überleben unvermeidlichen Gang in die Wildnis: „Das Dilemma der Höhle ist, dass sich zwar in ihr leben, nicht aber der Lebensunterhalt finden lässt.“ (Blumenberg)

Ein weiteres Dilemma: Nachdem wir uns über Jahrzehnte lebenspraktisch eingeübt haben in die spinozistische Formel ‚Deus sive natura‘, welche pantheistisch Gott und Natur gleichsetzte - und dies noch dazu in der kindlichster Überzeugtheit, dass es ‚die Natur‘ ja immer gut mit uns meine: nichts ist werbetechnisch überzeugender als das Attribut ‚natürlich! – erleben wir diese gute, natürliche Welt auf einmal als den gleichen, vollkommen undurchschaubaren und damit nicht mehr verlässlichen Willkür-Souverän, zu dem einstmals das Spätmittelalter Gott erklärt hat. (Dass Gott tatsächlich alles möglich sei, wurde - so die Überzeugung Blumenbergs - von den Menschen nun mehr als etwas Schauerliches wahrgenommen.)

Schließlich, letztes Dilemma: Auch die früheren ‚Hüter der Höhle‘, die späteren Hüter der Tempel, die Priester und Rabbinen, die über Jahrhunderte von Erzählungen wussten, in die man sich bergen kann, haben nichts mehr zu erzählen: Sie begnügen sich weithin damit, denen, die sich aus der Höhle wagen, wohlmeinend und sehr empathisch nachzurufen: „Passt auf euch auf!“

Sonntag, den 3. Januar 2021

"Höhere Wesen befahlen: rechte obere Ecke schwarz malen!"

Was der Künstler Sigmar Polke in einem 1969 gemalten Bild in bissiger Ironie aufgriff, betrifft eine der religiösen Hauptfragen: Wie ist das Phänomen der Inspiration zu denken? Wie erst recht das Phänomen der göttlichen Inspiration? Wie also die Inspiration der Bibel? Die göttlichen Eingebungen der Prophetie? Oder die Berufung des Abraham, die von der Heiligen Schrift - Gott spricht zu Abraham wie von Mensch zu Mensch - scheinbar in jener Naivität geschildert wird, wie sie Sigmar Polke geradezu genüsslich aufspießt? An eine Niederschrift durch ein göttliches Diktat, wie sich frühere Zeiten das Zustandekommen der Bibel vorstellten, wird man nicht mehr glauben können. Ähnliches gilt für die Prophetie: Auch die wird man sich kaum so vorstellen können, dass hier das Ohr eines Menschen Botschaften vernimmt, die ein göttlicher Mund Wort für Wort verkündet mit dem klaren Auftrag, die Botschaft entsprechend weiterzuleiten. 

Indessen wird man gerade die Naivität der biblischen Redeweise als Hinweis auf ein Geheimnis deuten müssen, welches auch mit höchst-komplexer Reflexion nicht aufhellbar ist. Indem man vollkommen naiv das Phänomen der göttlichen Eingebung schildert und sie also in einer Weise beschreibt, die aufscheinen lässt, dass sie gerade so nicht verstanden werden kann, würdigt man sie als schlechthin Unbegreifliches... Die Naivität der biblischen Sprache also als großer Zeigefinger im Sinne Rilkes: Der hat einmal ebenfalls sehr ironisch bemerkt, die Menschen seien "wie die Hunde..., die keinen Zeigefinger verstehen und meinen, sie sollten nach der Hand schnappen".

Die Ironie Sigmar Polkes wiederum hat man oft als generelle Absage verstanden: Als gälte es, das Phänomen der Inspiration dadurch grundsätzlich in Frage zu stellen, indem man es lächerlich macht. Aber vielleicht folgt die Ironie Polkes doch ganz den Spuren Rilkes?